Fakten statt Symbolpolitik

Klimakrise und Demografie müssen sich in der Berliner Wohnungsbaustrategie niederschlagen, fordern Umweltverbände und Architekten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.

»Wir setzen uns für eine behutsame Entwicklung der Elisabethaue ein«, heißt es in der Vereinbarung von SPD und CDU in Pankow, die diese Woche vorgestellt worden ist. Es solle eine »schonende Randbebauung« geben. Der 2016 zwischen SPD, Linke und Grünen im Koalitionsvertrag auf Landesebene verabredete Planungsstopp für die Freifläche zwischen der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 50 in Französisch Buchholz und dem Botanischen Volkspark Blankenfelde-Pankow soll also nach dem Willen der Bezirkspolitiker Geschichte sein. Statt der ursprünglich geplanten 4000 Wohnungen sollen es nach den rot-schwarzen Vorstellungen nur noch 1000 werden.

»Das ist eine gleich auf zwei Ebenen falsche Idee«, sagt Tilmann Heuser zu »nd«. Er ist Landesgeschäftsführer des Umweltverbands BUND Berlin. Einerseits, weil damit eine weitere Freifläche bebaut werden würde. Andererseits, weil für einen eher übersichtlichen Zuwachs an Wohnraum erhebliche Investitionen in die Infrastruktur erfolgen müssen. Seit Jahren wendet sich Heuser auch gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes. »Mit offenen Wiesenflächen haben viele ein Problem im politischen Raum. Über deren großen Wert haben wir noch einige Diskussionen vor uns«, sagt er zu den permanenten Anläufen von SPD, CDU und FDP für eine Teilbebauung der Flächen.

Der Druck auf die Freiflächen der Stadt wird noch erhöht durch die Wahlkampfforderung der SPD nach 200.000 neuen Wohnungen für Berlin bis 2030, die sich auch im Sondierungspapier von SPD, Grünen und Linke für die laufenden Koalitionsverhandlungen wiederfindet.

»SPD, Grüne und Linke müssen endlich den Realitäten ins Auge sehen und von dem Mantra ›Bauen, Bauen, Bauen‹ um jeden Preis abrücken - nicht nur aus Rücksicht auf die Stadtnatur, sondern auch, weil Bauen eine der klimaschädlichsten Aktivitäten der Menschheit überhaupt ist«, sagt Rainer Altenkamp, Erster Vorsitzender des Berliner Landesverbands des Naturschutzbundes Deutschland. In der Bundesrepublik sei der CO2-Ausstoß bei Errichtung und Nutzung von Gebäuden für etwa 30 Prozent der gesamten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Dabei verursacht ein typischer Neubau bereits in seiner Entstehungsphase die Hälfte der gesamten CO2-Emissionen, die während seiner Lebensdauer von durchschnittlich 50 Jahren insgesamt entstehen.

»Der Bausektor gehört zu den schlimmsten Klimasündern in Deutschland und weltweit. Das ist offenbar noch nicht in das Bewusstsein der rot-grün-roten Unterhändler vorgedrungen«, so Rainer Altenkamp weiter. Es sei schlicht widersinnig, Klimaneutralität anzustreben und zugleich massiv auf Neubau zu setzen.

»Ich will mehr Investitionen in den Wohnungsbau«, sagt hingegen Tilmann Heuser vom BUND zu »nd«. Dabei gehe es ihm zum einen um Aufstockungen von Bestandsbauten. »Dabei kann man Synergien bei der dringend nötigen Sanierung der Bestände mit dem Bau zusätzlicher Wohnungen nutzen«, so der Umweltlobbyist. Angesichts der alternden Bevölkerung werden deutlich mehr Wohnungen benötigt, die per Fahrstuhl erreicht werden können und eine klimapolitische Wärmewende ist ohne eine deutliche Reduzierung des Wärmebedarfs kaum umsetzbar. Seit Langem verharrt die energetische Sanierungsquote jedoch bei rund einem Prozent des Bestands pro Jahr - eine Verdreifachung wäre nötig. Für Neubau kommen ansonsten laut Heuser noch bereits hochversiegelte Flächen wie Parkplätze oder mit Supermarkt-Flachbauten unternutzter Grundstücke in Frage. Durch diese Ergänzungen im Bestand kann auch der Bau teurer neuer Erschließungs-Infrastruktur vermieden werden. Die Architektenkammer Berlin sieht das ähnlich. »Man soll lieber mal Gebäude aufstocken als die Freiflächen zuzubetonieren«, sagt deren Präsidentin Theresa Keilhacker zu »nd«. Das derzeit von landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften praktizierte »Zubauen grüner Innenhöfe« lehnt der BUND ab.

»Die 200.000 Wohnungen bis 2030 erinnern an ein sozialistisches Planziel«, sagt Tilmann Heuser. »Es geht um eine reine Symbolhandlung, wenn man sich die Fakten anschaut.« Und das hat Heuser gemacht, wie das 13-seitige Dossier belegt, dass er angefertigt hat. Der Titel: »Wieviel Neubau braucht Berlin bis 2030?« Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung geht aktuell von 121.000 Wohnungen aus, die ab 2022 fertiggestellt werden müssten (»nd« berichtete). Genehmigt oder bereits im Bau sind davon über 60.000.

»Tatsächlich wird der Bedarf aber wohl niedriger ausfallen«, schätzt Heuser. Denn die Haushaltsgröße ist in den letzten Jahren gewachsen. Lag sie 2012 statistisch in Berlin noch bei 1,77 Personen, wohnten 2020 durchschnittlich schon 1,79 Menschen unter einem Dach. Er rechnet vorsichtig mit einem weiteren Wachstum auf 1,8 Personen bis 2030. »Die in den vergangenen Jahren nach Berlin zugezogenen 20- bis 30-Jährigen sind inzwischen im besten Familienalter, entsprechend steigt die Zahl der Kinder und Familien«, begründet er die Entwicklung. Damit schrumpft selbst der vom SPD-Fachausschuss Soziale Stadt unter dem bestens in der Baulobby vernetzten Vorsitzenden Volker Härtig ermittelte Neubaubedarf von 200.000 Wohnungen auf etwas über die Hälfte. Zumindest wenn man die neueste Bevölkerungsprognose der Finanzverwaltung zugrunde legt, die von 3,885 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 2030 ausgeht. Der SPD-Fachausschuss bezieht sich jedoch auf die obere Variante der Bevölkerungsprognose von 2015, in der noch ein Wachstum auf 3,96 Millionen Berlinerinnen und Berliner für das Bezugsjahr angenommen worden ist. Selbst dann würden nur 140.000 Wohnungen benötigt. Von denen, wie bereits erwähnt, über 60.000 Stück genehmigt oder im Bau sind.

Privatinvestoren scheint der abnehmende Bedarf durchaus bewusst zu sein. Seit 2016 sinkt die Zahl der jährlich erteilten Baugenehmigungen für Wohnungen - von knapp über 25.000 auf rund 20.500 im vergangenen Jahr.

Rechnerisch müsste aufgrund der gestiegenen Haushaltsgröße der Nachholbedarf wegen des verzögert einsetzenden Wohnungsbaus nach den Berliner Boomjahren in absehbarer Zeit gedeckt sein. »Wir gehen aber davon aus, dass der tatsächliche Nachholbedarf höher liegt«, sagt Heuser. Zu berücksichtigen seien die derzeit in Not- und Sammelunterkünften untergebrachten Menschen - allein 20.000 Asylbewerber, die inzwischen in eigene Wohnungen ziehen dürften - wenn sie denn welche fänden. Oder die »vermiedene Aufteilung von Mehrpersonenhaushalten«, wie Heuser es nennt. Also beispielsweise erwachsene Kinder, die nicht zu Hause ausziehen können oder Paare, die nach einer Trennung weiter unter einem Dach leben müssen.

»Es fehlt ein anständiges öffentliches Monitoring, auf welchen Flächen bereits Wohnungen verwirklicht worden sind«, kritisiert Heuser. Die Zahl liege nicht vor. Bei den Wohnungsbaupotenzialen zeige sich »der typische Schrecken der Berliner Politik«. Zwar gebe es mit dem Wohnbauflächen-Informationssystem ein verwaltungsinternes Werkzeug. »Aber für gesamtstädtische Aushandlungsprozesse darüber, wo gebaut wird, brauchen wir Transparenz«, sagt der Umweltlobbyist. Als positives Beispiel nennt er Hamburg, wo die Bauflächenpotenziale öffentlich einsehbar sind. Gefordert wird ein öffentliches Baulückenkataster bisher nur regelmäßig von der Berliner FDP. Als Gegenargument von Seiten der Mitte-links-Koalition wird die Befürchtung genannt, dass so die Baulandspekulation angeheizt werden würde. Tilmann Heuser glaubt das nicht. »Wenn die Daten offengelegt werden, wird sich die ganze Diskussion um die Bebauung der Grünen Wiese schnell legen«, so seine Hoffnung.

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