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Er war mehr als ein »Pinselheinrich«

Das Berliner Käthe-Kollwitz-Museum würdigt den »Milljöh«-Zeichner und Sozialkritiker Heinrich Zille

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch in den alten Räumen in der Berliner Fasanenstraße präsentiert das Kollwitz-Museum, das im Frühsommer nächsten Jahren in die Nachbarschaft des Schlosses Charlottenburg umzieht, über 50 Arbeiten Heinrich Zilles aus einer Berliner Privatsammlung, darunter Heliogravüren, farbige Radierungen, Lithografien, Zeichnungen und Bleistiftskizzen.

Der aus einer Berliner Arbeiterfamilie stammende junge Zille war zunächst beim Steinzeichner Fritz Hecht in die Lehre gegangen, nahm aber auch Studien bei Theodor Hosemann auf, der als Maler und Lithograf zum Chronisten des Berliner Kleinbürgertums wurde. 1877 bekam Zille eine Anstellung als Reproduktionstechniker bei der Photographischen Gesellschaft Berlin - und sollte da über 30 Jahre bleiben. Um die Jahrhundertwende begann er bewusster, Szenen aus dem proletarischen Milieu festzuhalten: auf der Straße, in den Hinterhöfen der Mietskasernen, in Kaschemmen und Kneipen sowie in den Keller- und Dachgeschosswohnungen der Armen und Unterprivilegierten. Er hielt sie mit dem Zeichenstift fest, fotografierte aber auch und nutzte die Fotos dann als Vorlagen für seine Zeichnungen.

Nach seiner Entlassung aus dem Amt 1907 begann er als freier Künstler zu arbeiten und fand den für ihn so typischen Stil, der seine mit kurzen Bildunterschriften im Berliner Jargon oder auch Kurzgeschichten und Bonmots versehenen Blätter so einzigartig machte. Ähnlich wie Wilhelm Busch und Honoré Daumier hat er seine Zeichnungen durch schlagwortartige Kürzel kommentiert - mal sarkastisch, bissig, ironisch hinterfragend, mal witzig, mitunter auch unverbindlich. Im hohen Alter nahmen sentimentale und melancholische Töne zu.

War Heinrich Zille nun aber nur ein sarkastischer Witzblattzeichner, ein Vertreter derben berlinischen Humors? Keineswegs, er war ein Gesellschaftskritiker mit einem feinen Gespür für menschliche Tragik und soziale Not, politisch engagiert hat er sich jedoch nirgendwo. Die Zille-Biografin Nicole Bröhan bezeichnet ihn als »künstlerischen Sozialreporter«. Tatsächlich weisen seine Bilder in ihrer Ungestelltheit reportagehafte Züge auf.

Kurt Tucholsky sagte 1925 über Zille: »Er gehört zu den Neuen, der unbarmherzig sein kann und Herz hat, weil er vor Mitleid mitleidlos schildert, weil er die Ruhe weg hat.« Das sind seine Figuren, einzeln wie in der Menge, in deutlich betonten Umrisslinien: »Arbeiterfrauen, Mütter mit Kindern, Schwangere, schon gealterte Prostituierte und frühreife Gören, Landstreicher und Säufer, Selbstmörderinnen und Krüppel, Drehorgelspieler und Reisigsammlerinnen ... Im trüben Dämmerlicht, von Lichtreflexen durchbrochen, im ausschnitthaften Bildraum, die stereotype Wiederkehr des Alltäglichen und Massenhaften. Mögen die Gesichter im Bild noch so müde und abgestumpft wirken, Zille vermochte sie zum Sprechen zu bringen, die Emotionen und Gedanken seiner Figuren durch Physiognomie und Körperhaltung erkennbar zu machen. Bedrückende Elendsdarstellungen, dann aber auch wieder humorvolle Szenen mit den Vergnügungen der einfachen Leute im Freibad, auf dem Rummelplatz oder beim Schwof in der Kaschemme. Gerade Kinder, Halbwüchsige hat er mit einer gehörigen Portion Lebenswillen und witziger Selbstbehauptung ausgestattet.«

Die Lithografie »Die Destille« (1901) zeigt stupide am Biertisch hockende Männer sowie reglos auf sie wartende Frauen, gleichermaßen als Opfer von Kneipengeselligkeit. Dagegen ziehen mit wippenden Röcken »Zwei Straßenmädchen« (Farbradierung, 1902) unternehmungslustig des Weges. »Der späte Schlafbursche« (Heliogravüre, 1902) mit zwei Schnapsflaschen um den Hals platzt als unerwünschter Gast in ein schon mit stillender Mutter und drei Kindern überbelegtes »Wohnloch« hinein. »Ins Wasser« (1919) will sich eine unfreiwillig Schwangere mit ihrer kleinen Tochter stürzen, während in »Hunger« (1924) eine Mutter, einen Säugling an der Brust, mit ihren Kindern auf den Treppenstufen eines Bürgerhauses sitzt, auf Almosen hoffend. Besonders eindringlich auch die Lithografie »Das Eiserne Kreuz« (1916): Eine Frau starrt mit ihren Kindern auf das auf dem Tisch liegende Eiserne Kreuz, das Einzige, was sie von ihrem in den Krieg geschickten Mann noch hat.

Es gibt überraschende Ähnlichkeiten zu den Arbeiten der mit Zille befreundeten und ihn fördernden Käthe Kollwitz. Davon kann ein jeder Kunstinteressierte sich durch den Besuch der Sonder- und Dauerausstellung im Kollwitz-Museum überzeugen. Das Urteil der Künstlerin über Zille wäre übrigens ein geeignetes Motto zur Zille-Schau: »Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke.«

Heinrich Zille. Sonderausstellung im Kollwitz-Museum Berlin, bis 9. Januar, tägl. 11 bis 16 Uhr.

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