Kein Weihnachtswunder

Das Urteil im Prozess gegen den antisemitischen Attentäter von Halle vor einem Jahr weist viele Leerstellen auf

  • Arden Wein und Moritz Meier
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor einem Jahr, am 21. Dezember 2020, wurde der Attentäter von Halle verurteilt. Presse und Politik zeigten sich erleichtert: Die »Süddeutsche Zeitung« lobte Richterin Ursula Mertens in den höchsten Tönen. Sie habe den Angeklagten stets unter Kontrolle gehabt, sei »mit schneidender Stimme« dazwischen gegangen, und er habe ihr gehorcht. Noch während der Urteilsverkündung teilte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff via Twitter mit: Antisemitismus und Rassismus hätten, wie man ja am Prozessverlauf sehen könne, keinen Platz in Deutschland.

Wie sehr diese und ähnliche Darstellungen reinem Wunschdenken entsprechen, konnte bei genauerem Hinschauen deutlich beobachtet werden. Zwar wurde, ein Novum in der bundesrepublikanischen Rechtsprechung, das misogyne Motiv des Mordes an Jana L. anerkannt. Das sagt allerdings mehr über die vergangene Praxis und den noch immer aktuellen Umgang mit frauenfeindlichen Strukturen aus, als dass es ein Grund zum Feiern wäre.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Relevant ist vielmehr, was eben nicht verurteilt worden ist: Der rassistisch motivierte Mordversuch an Aftax I., der dem auf ihn zu fahrenden Täter noch ausweichen konnte, wurde als Verkehrsunfall abgetan, obwohl der Täter seine Absichten wiederholt kundgetan hatte. Auch Ismet Tekin, der außerhalb seines »Kiezdöners« mit der Waffe bedroht wurde, ist ausdrücklich nicht als Opfer anerkannt worden. Davon ziemlich unbeeindruckt stellten sich Gericht und Behörden als Hersteller:innen einer Wiedergutwerdung dar.

Dabei brachte das Urteil eben keine Versöhnung pünktlich vor Weihnachten. Was von den Behörden an Anerkennung und Unterstützung fehlte, wurde durch selbstorganisierte Initiativen möglich gemacht. Durch die Spendenaktionen der Jüdischen Studierendenunion und der Soligruppe Kiezdöner sowie tatkräftige Unterstützung der letzteren beim Umbau des Kiez-Döners wurde dessen Wiedereröffnung als »Tekiez-Café« möglich. Der Kontrast zwischen solidarischer ehrenamtlicher Unterstützung und dem Umgangs der Behörden in Sachsen-Anhalt mit den Opfern des Anschlags ist beschämend. Denn die Ämter verweigerten zuletzt notwendige finanzielle Hilfe, ihre Vertreter erschienen aber zur großen Gedenkveranstaltung am 9. Oktober, dem zweiten Jahrestag des Anschlags, vor dem Tekiez mit Pressefotografen.

»Alles muss man selber machen«, das erfahren wohl viele Engagierte der mittlerweile unzähligen Initiativen, die sich im Nachgang rechter Anschläge oder unaufgeklärter Morde in deutschem Polizeigewahrsam der letzten Jahrzehnte gegründet haben. Vielen von ihnen konnte man im September dieses Jahres auf dem von Überlebenden des Anschlags von Halle organisierten »Festival of Resilience« zuhören. Das war empörend und empowernd zugleich: Selbstorganisation in antifaschistischen Gruppen ist längst notwendig geworden und ermöglicht Raum für gegenseitige Anerkennung und Unterstützung.

Die im Oktober vom Zentrum Demokratischer Widerspruch und den Beratungsstellen für von Antisemitismus Betroffene, OFEK e. V., publizierten Prozessmitschriften schaffen eine Grundlage für fortlaufende Analysen der Geschehnisse und Aussagen im Gerichtsverfahren. Eine multimediale Ausstellung der Künstlerin Talya Feldman verlieh den Betroffenen von insgesamt 18 rechten Anschlägen in Deutschland seit 1979, inklusive dem von Halle, eine Stimme. Feldman ist eine der Überlebenden des Anschlags von Halle.

Die Forderung muss bleiben, dass rechte Gewalt verhindert werden muss, und zwar nicht nur selbstorganisiert durch Betroffene und Angehörige. Dafür braucht es die Aufarbeitung antisemitischer und rassistischer Tendenzen in der Gesamtgesellschaft, kritische Selbstreflexion, Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, Ablehnung der Hufeisen- bzw. Extremismustheorie durch Wissenschaft und Öffentlichkeit, ein Ernstnehmen der Gefahren von Rechts, Solidarität mit allen Betroffenen rechter Gewalt, kurz: keine Versöhnung ohne Antifaschismus. Die nächste Gelegenheit, Flagge gegen antisemitische und rassistische Gewalt zu zeigen, bietet sich spätestens am 21. Januar: Vor dem Hessischen Landtag kann in Solidarität mit den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau während der nächsten Sitzung des Untersuchungsausschusses zur Aufarbeitung des Versagens und Fehlverhaltens der Behörden demonstriert werden.

Arden Wein (Jahrgang 1997) beschäftigt sich mit Selbst- und Fremdbildern der Beteiligten im Halle-Prozess. Moritz Meier (Jahrgang 1999) beobachtete mit der reformjüdischen Jugendorganisation TaMaR Germany e.V. die letzten Prozesstage in Magdeburg. In Zusammenarbeit ist diese kurze Kolumne entstanden.

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