• Kultur
  • »Harlem Shuffle« von Colson Whitehead

Wer sich nicht hilft, ist verloren

In »Harlem Shuffle« schildert Colson Whitehead die Schwarze Emanzipation im New York der 60er Jahre

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Colson Whitehead ist derzeit eine der wichtigsten Stimmen der Schwarzen US-amerikanischen Gegenwartsliteratur. Vor vier Jahren erhielt er für seinen auch als Amazon-Serie verfilmten Roman »Underground Railroad« den Pulitzer-Preis und den National Book Award - die zwei renommiertesten Auszeichnungen des US-amerikanischen Literaturbetriebs. Nach diesem Opus über den Kampf gegen die Sklaverei hat Whitehead nun mit »Harlem Shuffle« wieder einen historischen Roman über das Schwarze Amerika vorgelegt. Diesmal geht es nach New York, wo Whitehead 1969 geboren wurde.

Wie der Titel andeutet, der einem Song von Bob Earl aus dem Jahr 1963 entnommen ist (und der erst als Coverversion der Rolling Stones bekannt wurde), spielt der Roman im Bezirk Harlem Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre. Im Zentrum steht der Möbelhändler Raymond Carney, der sich langsam nach oben arbeitet. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war ein lokal bekannter Krimineller und ist ebenso wie die Mutter früh verstorben, sodass Raymond zusammen mit seinem Cousin Freddie aufwächst. Während Raymond sich für eine bürgerliche Existenz als Kleinunternehmer entscheidet, wird Freddie ein Beatnik, konsumiert jede Menge Drogen und zieht Raymond regelmäßig in irgendwelche krummen Geschäfte hinein.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

»Harlem Shuffle« ist ein mitreißender Roman über die Großstadt New York und ebenso eine detailreich in Szene gesetzte Schwarze Familiengeschichte, aber auch ein spannender Krimi über politische und antirassistische Kämpfe mit viel Jazz, Drogen, Nachtclubs, heruntergekommenen Restaurants, korrupten Polizisten und rassistischen Handelsvertretern.

Es nicht einfach, als Schwarzer in Harlem einen Möbelladen zu betreiben. Denn die Möbelhersteller liefern schlicht nicht in diesen Bezirk, und auf den Messen der Branche wird Raymond von weißen Handelsvertretern regelmäßig ignoriert. Wie offen rassistisch die USA sind, zeigt auch eine Reise von Freddie in den Süden, wo er in einer Kleinstadt den Ku-Klux-Klan aufmarschieren sieht. Raymonds Frau wiederum arbeitet bei der Agentur Black Star, die People of Color bei solchen nicht ungefährlichen Reisen durch die USA unterstützt und hierfür ein Netzwerk aufgebaut hat: »Es war eine Karte der schwarzen Nation innerhalb der weißen Welt, Teil des Größeren, aber eigenständig, selbstbestimmt, mit seiner eigenen Verfassung. Wenn wir einander nicht helfen würden, wären wir da draußen verloren«, sinniert Raymond.

Auch wenn in New York andere Verhältnisse als im Süden der USA herrschen, so erzählt Colson Witehead doch auch viel von einem geteilten Big Apple. Downtown, wo die weißen Reichen leben und der Jungunternehmer Raymond nur sehr vorsichtig Geschäftsbeziehungen knüpfen kann, wird protziger Wohlstand zur Schau gestellt, während uptown im heruntergekommenen Harlem Polizisten regelmäßig Schwarze Jugendliche zusammenschlagen und auch Menschen erschießen. Die Harlem-Riots von 1964 liefern für einen Teil der Handlung den Hintergrund. Damals erschoss ein Polizeibeamter grundlos den 15-jährigen Schüler James Powell, was zu tagelangen Unruhen in weiten Teilen New Yorks von Harlem bis Brooklyn führte. Der Polizist wurde später vor Gericht freigesprochen.

Whitehead webt dieses heute weiterhin aktuell erscheinende Stück Geschichte in seine Familiensaga ein. Dabei beteiligen sich die Carneys gar nicht an den Krawallen, Raymond beschützt sogar mit einem Baseballschläger in der Hand seinen mit einem Schild »Schwarzer Eigentümer und Betreiber« versehenen Laden vor Plünderern. Aber Freddie geht in einer jener heißen Sommernächte 1964, als halb Harlem brennt, mit seinem weißen Kumpel Linus dessen reiche Familie in der 5th Avenue beklauen, wo die oberen Zehntausend leben. Dass die beiden zugedröhnten Beatniks mit ihrem Einbruch bei den Van Wycks, einer Ostküsten-Dynastie, die auch einen New Yorker Bürgermeister in ihrer Ahnentafel vorweisen kann, eine ganze Lawine an Ereignissen auslösen, in die auch Raymond hineingezogen wird, ist ihnen erst mal nicht klar.

Plötzlich hat es Raymond mit einer der einflussreichsten Familien der Stadt zu tun, deren Lakaien vor keiner Gewalttat zurückschrecken, um das wiederzubekommen, was Raymond in einer Aktentasche für seinen untergetauchten Cousin im Tresor seines Geschäfts aufbewahrt. Sind es wirklich die Edelsteine, die die beiden erbeutet haben, oder doch die Papiere, auf die sich Raymond erst mal keinen Reim machen kann? Ihm wird klar, dass es hier um Immobilien, juristische Finessen und sehr viel Geld geht.

Von einem kleinen Möbelladen in Harlem ausgehend, fächert Colson Whitehead mit »Harlem Shuffle« ein ganzes historisches Stadtpanorama von Manhattan auf. Das reicht von den in der New Yorker Stadtgeschichte immer noch kaum erwähnten Enteignungen Schwarzer Gemeinschaften für den Bau des Central Park Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu den großen Abrissarbeiten für den Bau des World Trade Center: »Das Viertel war verschwunden, plattgemacht. Alles (…) war für die Baustelle des World Trade Center niedergerissen und ausradiert worden, bis hin zu den Verkehrszeichen und Ampeln. Das waren die Überreste einer ruinösen Schlacht.« Auch hier kommt es zu Protesten der Nachbarschaft, die aber nichts an der weitergehenden Kommerzialisierung der Stadt ändern.

Ganz New York wird als ein vor sich hin surrendes Räderwerk beschrieben, das mit den überall herumgereichten Briefumschlägen mit Schmiergeld am Laufen gehalten wird. Egal ob es der Schwarze Unternehmerverband von Harlem ist, in dem Raymond Mitglied werden will, der Polizist, der jede Woche sein Geld bei ihm im Möbelgeschäft abholt, oder die reiche Familie des gefallenen Linus, die ein Hochhaus nach dem anderen baut. Schließlich lernt Raymond, sich in dieser Welt wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. Doch nach den Ereignissen im Sommer 1964 wird auch der Möbelhändler vom Funken des Widerstands erfasst, genauso wie sein ganzes Viertel.

Colson Whitehead: Harlem Shuffle. A. d. amerik. Engl. v. Nikolaus Stingl. Hanser, 384 S., geb., 25 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal