»Belarus kann ein Diamant inmitten Europas werden«

Das Belarus Free Theatre organisiert Untergrundtheater – seit 2020 unter noch gefährlicheren Umständen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.

Natalia Kaliada, was war der Hauptgrund für die plötzliche Evakuierung der Gruppe?
Natalia Kaliada: Wir sind seit 17 Jahren an der Spitze des kulturellen Widerstands gegen das Regime. Mitglieder unserer Gruppe wurden mehrfach eingesperrt. Wir haben Freunde verloren. Aber seit 2020 ist das Ausmaß der Gewalt auf ein bisher nicht gekanntes Maß angestiegen. Die Evakuierung der gesamten Gruppe war einfach notwendig.

Svetlana Sugako, Sie waren die gesamte Zeit in Belarus. Wie hat sich die Situation für Sie dargestellt?
Svetlana Sugako: Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Nach der Wahl am 9. August 2020 versuchte Lukaschenko jeglichen Protest zu unterdrücken. Wir waren so zornig darüber. Mit meiner Lebensgefährtin und einer weiteren Schauspielerin des Belarus Free Theatre wurde ich einfach von der Straße gekidnappt. Fünf Tage verbrachten wir im Gefängnis. Es waren schreckliche Bedingungen. Wir waren 36 Frauen in einer Zelle für vier Personen. Selbst das Atmen fiel schwer. Wir hatten nichts zu Essen, kein Wasser. Wir hörten, wie ein Mann von der Polizei verprügelt wurde. Es war einfach Folter. Nach fünf Tagen wurden wir entlassen. Wir dachten, das war es, Lukaschenko ist am Ende und wir können das Land neu aufbauen.

Belarus Free Theatre

Das Belarus Free Theatre organisiert seit fast 17 Jahren Untergrundtheater in Belarus. Die Gründer der Gruppe, Natalia Kaliada und Nikolai Khalezin, mussten bereits vor zehn Jahren ihr Land verlassen. Von Großbritannien aus führten sie die Theaterarbeit mit Workshops, Aufführungen und einer eigenen Theaterakademie weiter. In den letzten Wochen musste aber die gesamte Gruppe aus Belarus fliehen, darunter auch die Managerin Svetlana Sugako.

Für den 10. März ist die Londoner Premiere des bereits in Belarus aufgeführten Stücks »Dogs of Europe« nach dem gleichnamigen Dystopie-Thriller des aus Belarus stammenden Autors Alhierd Bacharevic geplant. Im nd-Interview erklären Sugako und Kaliada, unter welchen Bedingungen sie Theater in Belarus machten und wie sie Theater außerhalb des Landes machen wollen.

Dann aber geschah genau das Gegenteil?
Sugako: Genau. Es wurde schlimmer. Mehr als ein Jahr ist vergangen und die Situation hat sich nicht verbessert.

Was planen Sie jetzt für die Theatergruppe?
Sugako: Momentan sind alle noch in London. In ein paar Tagen werden wir nach Polen fliegen.

Wie lange wollen Sie dort bleiben?
Sugako: Schwer zu sagen. Ich hoffe, dass es sich nur um ein paar Wochen oder Monate handelt. Vielleicht dauert es aber auch zwei Jahre. Polen wird, so hoffe ich, ein sicherer Ort für uns sein. Aber ich möchte dort nicht Wurzeln schlagen. Meine Wurzeln sind in Belarus, mein Zuhause ist dort, und ich möchte zurück gehen und helfen, das Land aufzubauen.
Kaliada: Jeder wartet jetzt auf Veränderung in Belarus. Das Problem ist, dass die EU und die USA nicht genug unternehmen. Sie machen viele Worte, es wird aber nicht gehandelt, und wenn, dann mit bürokratischen Verzögerungen. Das ermöglicht es Lukaschenko, sich neu zu organisieren. Jetzt hoffen wir auf gute Aufnahme des Ensembles in Polen. Von dort aus werden wir unsere Studenten weiter online unterrichten. Und mit unserer Methode der »totalen Immersion« wollen wir auch mit Kindern und Jugendlichen aus Belarus arbeiten, um ihre traumatischen Erfahrungen zu lindern und mit ihnen daraus Kunst zu machen. Wir haben als Gruppe etwas zu geben.

Das bedeutet, das Belarus Free Theatre ist eher keine Gruppe von Geflüchteten, sondern ein Theaterensemble, das jetzt auf einer ganz besonderen Auslandstournee ist?
Sugako: Es ist auf alle Fälle näher an Letzterem. Wir sind keine Geflüchteten, sondern arbeiten jenseits der Landesgrenzen und wollen so schnell wie möglich zurück.

Wie war die Situation in Belarus, kurz nachdem Sie aus dem Gefängnis entlassen wurden. Konnten Sie da überhaupt ans Theatermachen denken oder waren Sie alle noch schockiert und verängstigt?
Sugako: Es war beides. Natürlich hatten wir Angst. Es war gefährlich zu spielen. Andererseits spielen wir seit 16 Jahren im Untergrund, waren Gefahren gewohnt. Zuletzt wurden wir oft von Gemeinschaften eingeladen und spielten in deren Höfen. Fast jedes Haus hatte eine Chatgruppe auf Telegram. Dort wurden alle möglichen Dinge diskutiert. Und viele luden uns ein.

Es war also eine ganz spezielle Lieferung von Theater nach Hause?
Sugako: Genau. Wir waren schon immer sehr nah an unserem Publikum. Bei uns gibt es keine vierte Wand. Das Publikum nimmt an den Vorstellungen teil. Wichtig waren auch immer die Diskussionen nach einer Vorstellung. Jetzt war es aber genau andersherum. Jetzt wurden wir vom Publikum in deren Leben involviert, kamen zu ihnen nach Hause. Das war sehr besonders. Alle wussten auch von der Gefahr, dass der KGB uns festnehmen kann. Also sorgten sie für unsere Sicherheit. Es gab für den Fall, dass wir schnell fliehen müssen, immer ein Auto. Es war wirklich eine Gemeinschaft, das ganze Land war eine Gemeinschaft.

Welche Veränderungen bemerkten Sie bei Ihrem Publikum im Laufe der letzten Jahre?
Sugako: Die gesamte Gesellschaft hat sich massiv verändert. Es kam wahrscheinlich mit Victor Babarika, dem unabhängigen Präsidentschaftskandidaten. Er vermittelte jedem den Glauben, dass das Leben von jedem einzelnen abhängt. Die Leute verstanden: Es liegt an uns, für eine Veränderung zu sorgen. Und sie wurden aktiv.

Das stellte also eine Abkehr von der postsowjetischen Mentalität dar, vom Leiden und Meckern, bei aller Ironie aber auch Gehorchen und mangelndem Zutrauen, Verantwortung zu übernehmen?
Sugako: Genau. Und wir verstanden auch, dass niemand kommen und uns retten wird. Selbst jetzt, mit etwa 900 politischen Gefangenen geht das weiter. Man sieht es an den Freiwilligen, die die politischen Gefangenen unterstützen, und denen selbst droht, ins Gefängnis gesteckt zu werden. Ich frage mich allerdings auch, wie viele es noch werden müssen, damit die EU, Großbritannien und die USA endlich handeln? Müssen es statt 900 politischen Gefangenen 9000 sein? Oder 90.000? Wenn es da eine Zahl gibt, sagt sie uns, dann gehen wir sofort zurück nach Belarus!

Natalia, Sie sind gerade in Brüssel. Was sollte die EU unternehmen?
Kaliada: Wir versuchen, sie zu viel stärkeren Aktionen zu bewegen. Jedermann sieht, dass das Regime am Ende ist, sogar Lukaschenko selbst sieht das. Die Frage ist nur, wie lange dauert es noch und wie viele Menschen sterben in diesem Prozess. Die EU wartet bloß und schaut zu. Es gab Vergewaltigungen, Folter und Mord, dann die Flugzeugentführung. Jetzt beutet Lukaschenko Geflüchtete aus. Worauf will die EU noch warten?

Gegenwärtig taucht Belarus vor allem wegen der Flüchtlingskrise an den Grenzen zu Polen und Litauen in den Nachrichten auf. Wie reagiert die einheimische Bevölkerung darauf? Nimmt sie Lukaschenko die politische Inszenierung von der bösen EU, die auf Geflüchtete schießt und ihm selbst als deren Retter ab?
Sugako: Ich bin sicher, dass die Bevölkerung nicht so dumm ist wie Lukaschenko annimmt. Natürlich durchschaut jeder dessen Spiel. Er will, dass die internationalen Politiker mit ihm reden, sodass er als Präsident agieren kann. Aber er ist nicht unser Präsident, wir haben ihn nicht gewählt. Er hat einfach das Land okkupiert. Wenn er den Geflüchteten wirklich helfen wollte, würde er ihnen Essen und Arbeit geben. Aber er spielt nur mit ihren Leben. Sie sterben in den Wäldern und ihn kümmert das nicht. Er hat Leute aus Belarus umbringen lassen, er tötet jeden, um an der Macht zu bleiben und immer mehr Geld zu machen!

Natalia, Sie mussten vor zehn Jahren das Land verlassen. Jetzt trifft es die nächste Generation. Für wie dramatisch halten Sie das? Oder sehen Sie es eher als Zeichen für die zunehmende Schwäche des Regimes?
Kaliada: Ich habe genau dieses Gefühl. Anfangs waren wir eine kleine Gruppe und erlitten sehr viele Repressionen. Jetzt hat dieses Leid die Mehrheit der Bevölkerung erreicht. Und was wir sehen, ist, dass eine neue Nation geboren wurde. Das ist das Wichtigste. Wir müssen nur weitermachen.
Sugako: Wir wissen, wenn wir weitermachen, können wir das Land neu aufbauen. Belarus kann ein Diamant inmitten Europas werden!

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