Die heilige Schrift der Hartzer

Leo Fischer über einen grünen Minister und klassenförmigen Konsum

Lebensmittel müssten deutlich teurer werden, sagt der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. »Es darf keine Ramschpreise für Lebensmittel mehr geben, sie treiben Bauernhöfe in den Ruin, verhindern mehr Tierwohl, befördern das Artensterben und belasten das Klima. Das will ich ändern«, erklärte er der »Bild am Sonntag«. Wieviel teurer denn noch, rechneten ihm viele vor - um fast fünf Prozent stiegen die Preise des ganz normalen Ramsches letztes Jahr. Eine Ankündigung, die es in sich hat in einem Jahr mit Rekordinflation, explodierenden Mieten und Energiepreisen. Und eine Ankündigung, die tief blicken lässt in die neue Klassengesellschaft, die die Grünen einst mitgeschaffen hatten und die sie nun fit fürs 21. Jahrhundert machen wollen, jedenfalls oberflächlich.

Die Kritik, die Özdemir von linker Seite erhielt, blieb ebenfalls an der Oberfläche. Die einen forderten günstiges Fleisch für alle, die anderen verlangten Lohnerhöhungen, um die Preise zu rechtfertigen. Dabei ist es verfehlt, die Kritik allein an Preisen festzumachen. Tatsache ist, dass sich im Zuge des neoliberalen rot-grünen Projekts eine neue Form klassenförmigen Konsums ausgebildet hat, in der niedrige Preise niedrige Löhne rechtfertigen und umgekehrt. Alle Modelle des Existenzminimums, der Sozialfürsorge, der Hartz-IV-Sätze basieren auf den Dumpingpreisen, die ausschließlich durch die ruinöse Maximalausbeutung von Mensch und Umwelt erreicht werden können. Die Dumpingpreise und ihre Entwicklung modellieren wiederum die Löhne - wer sie sich leisten kann, kann nicht arm sein. So wird eine ganze Klasse durch Konsum strukturiert, eine postindustrielle Reservearmee aus Hartz-IV-Empfängern, Minijobbern und Scheinselbstständigen, die die Angebotsprospekte der Discounter sonntäglich studieren müssen wie die heilige Schrift. Die Existenz dieser Lebensform, dieser Konsumklasse ist Voraussetzung dafür, dass sich die Discounter rentieren, dass sich die widerwärtigen menschenschinderischen Fleischfabriken rentieren, dass sich die Agrarmonopole rentieren.

Der einzelne Preis, von Ware oder Arbeitsstunde, ist dabei vergleichsweise irrelevant; die Fortexistenz dieser Konsumklasse ist es jedoch nicht. Sie ist Teil des Systems Hartz IV, in der es eine Strafe sein soll, arm zu sein, nicht zu funktionieren; dass diese Klasse nur Ramsch konsumieren und Ramsch herstellen soll, wird als gerechter Teil dieser Strafarmut verstanden. Nun wird auch über die Legalisierung des Containerns diskutiert - der Verzehr von Müll durch die unteren Schichten, schon durch die Tafeln teilinstitutionialisiert, soll aus der Tabuzone geholt werden. Die seltenen Aufsteiger in der angeblichen Leistungsgesellschaft distinguieren sich deswegen meist durch Konsum, lassen die Discounter links liegen und beginnen mit marktfrischem Gemüse Ottolenghi-Gerichte zu zaubern. Durch Verzehr des Wertvollen beweist man den eigenen Wert, vergisst vielleicht kurz die eigene Überflüssigkeit und Abstiegsangst. Denn der Discounter fungiert stets auch als Drohung: ein falsches Wort zum Chef, und du kannst dich wieder durch den Ramsch wühlen wie ehedem.

Wie stark klassenförmig Konsum in Deutschland strukturiert ist, mit der traurigen Wahl zwischen fauligem Miefdiscounter und der Dinkelödnis der Biomärkte, erlebt man, wenn man in europäischen Nachbarländern einkaufen geht, in denen die Idee von Ramschlebensmitteln gar nicht erst angekommen ist. Diesen deutschen Spezialkonsum wird Özdemir freilich auf keine Weise abschaffen, denn nur er garantiert die konkurrenzlos niedrigen Löhne, die Deutschland zum Unikum unter den Industrienationen machen - zur Ramschperle der G7.

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