Der letzte Augenblick

Eine neue Initiative, LastSeen, ruft zur Suche nach Fotos von deportierten Juden auf

»Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher«, schrieb Hannah Arendt am 26. Dezember 1941 in einem in der New Yorker deutsch-jüdischen Zeitschrift »Aufbau« veröffentlichten Artikel. Nicht ahnend, dass nicht einmal einen Monat später, am 20. Januar 1942, in einer Villa am Berliner Wannsee unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich der millionenfache Mord an den europäischen Juden von deutschen Ministerialbeamten akribisch geplant, Zuständigkeiten sowie zeitliche und räumliche Abläufe beschlossen werden sollten. Tatsächlich sind Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens heute noch nicht gefeit vor Ressentiments, Hass, verbalen und tätlichen Attacken. Unvergleichlich und singulär indes in seiner mörderischen Dimension bleibt nach wie vor der Antisemitismus deutsch-faschistischer Ausprägung.

Als Hannah Arendt den Satz notierte, war die Mordmaschinerie der Nazis bereits am Rotieren. Sie sollte jedoch noch unvorstellbarere, »apokalyptische Ausmaße« nach der sogenannten Wannsee-Konferenz annehmen, wie Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), bei der Vorstellung einer neuen Initiative der Arolsen Archives gemeinsam mit ihrer Einrichtung am gestrigen Donnerstag in München betonte. Ein Projekt wider das Vergessen: LastSeen sucht nach Bildern der NS-Deportationen, letzten Fotografien von Menschen, die ab 1938 in Konzentrationslager auf deutschem Boden sowie während des Zweiten Weltkrieges in die Ghettos und Vernichtungslager im okkupierten Osten verschleppt und dort ermordet worden sind. Letzte Aufnahmen. Letzte Augenblicke von Männern, Frauen und Kindern, die mörderischem deutschen Antisemitismus und Rassismus zum Opfer fielen.

Bisher sind rund 550 Fotos von Deportationen aus etwa 50 deutschen Großstädten wie auch kleinen Gemeinden bekannt, informiert Henning Borggräfe, Leiter des Ressorts Forschung und Bildung der Arolsen Archives. Das aus einem 1947 von den Alliierten gegründeten Internationalen Suchdienst nach vermissten Personen hervorgegangene, in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen ansässige Forschungs- und Dokumentationszentrum hütet in seinem Online-Archiv inzwischen bereits 28 Millionen Dokumente von und zu Opfern und Überlebenden der NS-Verfolgung. Sie sollen verstärkt durch bildliche Zeugnisse ergänzt werden.

Borggräfe vermutet, dass unzählige Fotografien in Archiven, auf privaten Dachböden und in Kellern schlummern, in Familienalben und alten Zeitungen aufzustöbern sind. Die Initiative richtet sich an eine breite Öffentlichkeit, vor allem an die Jugend, nach solchen zu fahnden. Einige Fotos, bekannte wie wenig bekannte, wurden bei der Präsentation des Projektes am 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz in der bayerischen Landeshauptstadt gezeigt. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter eröffnete zugleich eine dem Thema gewidmete Wanderausstellung. Auf der Ladefläche eines historischen Lkws soll sie im Laufe dieses Jahres durch die Bundesrepublik touren; zurzeit ist sie auf dem Münchner Marienplatz zu besichtigen.

Bevor die Züge der Reichsbahn - wie unter anderem auf der Wannsee-Konferenz fixiert - hunderttausendfach Juden und Jüdinnen von den »Sammelstellen« allerorten in Deutschland zu den Mordstätten im Osten brachten, waren Lastwagen der Gestapo und Wehrmacht im Einsatz. Auf Lkws wurden Juden und Jüdinnen zu den Bahnhöfen gekarrt, wo die Todeszüge warteten, die sie »wie Vieh zu Schlachtbänken transportierten«, so Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Zu ergänzen wäre: Es waren auch Lastwagen, in denen die ersten Tötungen mit Giftgas vor dessen systematischer Anwendung in Auschwitz und anderen Todeslagern erprobt wurden. Ersonnen ward diese grausige Mordmethode im kranken Hirn eines Gruppenleiters im Reichssicherheitshauptamt (RSHA): Walther Rauff, der nach Kriegsende nach Südamerika flüchtete und 1958 bis 1962 unbehelligt als Agent des BND arbeitete.

Die Deportationen der Juden wie auch von Sinti und Roma, Männern, Frauen und Kindern fanden am helllichten Tag unter aller Augen statt, inszeniert als ein öffentlicher Akt der Entwürdigung. Mancherorts, wo sich die Häscher nicht der Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung der örtlichen Bevölkerung sicher sein konnten, auch nachts, heimlich. Dennoch, jeder Deutsche, der wissen wollte, wusste, was da vor sich ging.

Neben der Suche nach Bildern, geht es bei LastSeen auch um deren Entschlüsselung: Wer ist abgebildet? Den verfolgten und ermordeten Menschen sollen Namen, Gesichter und Geschichten zurückgegeben werden. Die Initiative LastSeen möchte auch, so weit wie möglich, die Täter benennen. Auf einem der in München gezeigten Fotos wird eine Kolonne verhafteter Juden von einfachen Polizisten begleitet. Relevant sei auch die Frage, wer die jeweilige Aufnahme gemacht hat, so die Initiatoren. Und natürlich, wann und wo diese entstand. Eine Kärrnerarbeit, die von Historikern und Historikerinnen allein nicht zu bewältigen ist - gesellschaftliche Mitwirkung wird benötigt. Je mehr Bürger und Bürgerinnen sich beteiligen, so die Hoffnung der Träger des Projektes, zu denen auch die Berliner Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz gehört, desto umfangreicher und detaillierter werden Ergebnisse, Erkenntnisse sein.

Intendiert ist nicht nur die Mehrung des Wissens über das nach wie vor unfassbare Geschehen. Die Suche nach Deportationsfotos werde auch zum Nachdenken einladen: Wie hätte ich mich damals verhalten? Was mache ich heute, wenn ich Unrecht begegne? »Zunehmende antisemitische Angriffe und rassistisch motivierte Anschläge in jüngster Zeit haben klargemacht, wie wichtig es ist, immer wieder zu zeigen, wohin Judenhass und Ausländerfeindlichkeit führen können«, mahnte am Donnerstag der Münchener Oberbürgermeister. Und fügte hinzu: »Aus Worten werden Taten.« Die neue Initiative soll einen Beitrag leisten, die Erinnerung wachzuhalten, aber auch den Blick zu schärfen für rechtsradikale und rechtsextremistische Umtriebe heute.

Charlotte Knobloch beklagte, dass nicht alle Bundesbürger und -bürgerinnen bereit seien, die Verantwortung deutscher Vergangenheit für die Zukunft zu übernehmen. »Im Gegenteil, für viele ist es sehr verführerisch, die Vergangenheit vergessen sein zu lassen.« Es werde behauptet, sie habe nichts mit der Gegenwart zu tun. »Was für ein gefährlicher Irrtum«, rief die Tochter des Rechtsanwalts Fritz Neuland aus, der als Zwangsarbeiter die Shoah überlebt hatte. »Ich habe selbst gesehen, was Menschen Menschen antun können«, sagte Charlotte Knobloch und erinnerte sich, wie ihr unbeschwerte Kindheit von den Nazis nur wegen ihres Jüdischseins verwehrt worden war. »Wo andere Kinder Freunde fanden, wurde meine Welt mit jedem Jahr kleiner und kleiner. Ich verlor Spielkameraden, verlor Selbstachtung, weil ich auf der Straße vor uniformierten Nazis in den Rinnstein ausweichen musste, und verlor das Wichtigste, Menschen, die ich liebte.«

Mit Dankbarkeit sprach sie von ihrer »geliebten Großmutter«, die »auf Transport ging, damit mein Name von der Liste verschwand«. Und vom »grenzenlosen Mut der Menschen, die mich aufnahmen; Die Mehrheit duckte sich weg.« Charlotte Knoblochs Großmutter Albertine Neuland ist 1944 im KZ Theresienstadt ermordet worden. Die Enkelin wurde von einer ehemaligen Hausangestellten ihres Onkels, Kreszentia Hummel, 1942 auf dem Bauernhof ihrer Eltern im mittelfränkischen Arberg in Sicherheit gebracht.

Erste Ergebnisse der Initiative LastSeen sollen Ende 2022 publiziert werden.

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