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Das Prinzip Rampe

Ikonische Bauten mit sacht subversivem Potenzial: Das Berliner Aedes Architecture Forum widmet sich den baulichen Anlagen für die Olympischen Winterspiele in China

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Großzügig und 
unverwechselbar: Zu den Bauwerken für die Olympischen Winterspiele in China 2022 zählt auch die »Big Air« genannte Ski-Rampe inmitten eines stillgelegten Industrieparks.
Großzügig und 
unverwechselbar: Zu den Bauwerken für die Olympischen Winterspiele in China 2022 zählt auch die »Big Air« genannte Ski-Rampe inmitten eines stillgelegten Industrieparks.

»Urban Ergonomics« ist eines der neuen Schlagworte in der Architektur. Es betont das Verhältnis zwischen menschlichen Körpern, physischen Objekten und gebauter Infrastruktur. Der Mensch und seine Bedürfnisse werden also - erneut - zurück in die Architektur gebracht. Auch ökologische und Gesundheitsaspekte spielen eine Rolle. »Urban Ergonomics« ist auch die Ausstellung über Projekte des chinesischen Architekten Zhang Li betitelt.

Zhang Lis bekannteste Arbeit flimmert in diesen Tagen über viele Fernsehbildschirme. Denn der an der renommierten Tsinghua-Universität lehrende Architekt war nicht nur fest ins Bauplanungsprogramm der Olympischen Winterspiele integriert. Er schuf auch die ikonische Ski-Rampe »Big Air«. Auf dieser werden die Free-Style- und Snowboard-Wettbewerbe ausgetragen. Später soll die Rampe von Freizeitsportlern genutzt werden. So ist es zumindest angekündigt.

»Big Air« schraubt sich in einem Industriegebiet im Norden Pekings in die Höhe. Der geschwungene Bau setzt nicht nur die Skyline der Kühltürme des einstigen Industriereviers fort. Er ist zugleich ein sehr luftiger Kontrast zur massiven Industriearchitektur. »Wir wollten etwas Leichtes, Luftiges im Gegensatz zu dem Schweren ringsum schaffen. Das wollten auch die Gemeinschaften, die wir befragt haben«, erklärte der Architekt in einem Video, das im Rahmen der Ausstellung läuft. Nicht zuletzt bringt die Anlage buchstäblich menschliche Körper in Bewegung. Sie gleiten herunter, fliegen durch die Luft und müssen mit Einsatz von Muskeln und Sehnen sowie mit beträchtlichem Koordinationsvermögen die Balance bei rasender Geschwindigkeit halten.

Genau dafür steht auch »Urban Ergonomics«. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erhofft sich von »Urban Ergonomics«-Programmen im städtebaulichen Kontext etwa mehr Bewegung für die Bewohner und damit reduzierte Risiken chronischer Leiden, die durch Übergewicht und Fettleibigkeit verursacht werden. Ob solche Lenkungen durch Architektur tatsächlich funktionieren, muss beobachtet werden. Die Architekturgeschichte ist voll von Reformvorhaben, die gut klangen, aber nicht zwangsläufig zu einem besseren Leben führten.

In den Ausstellungsparcours ist Bewegung immerhin eingebaut. Man kann an einer virtuellen Abfahrt teilnehmen. Man wird aufgefordert, den eigenen Körper in geometrische Muster zu pressen, die auf einer Leinwand gezeigt werden. Macht man das gut genug, winkelt die Gliedmaßen richtig vom Körper ab, erreicht eine gute Hockstellung, dann gleitet der Avatar, der diese Bewegungen aufnimmt, auch elegant und ohne zu stürzen ins virtuelle Ziel auf der Projektionsfläche.

Das Spiel bettet sich ein in die virtuellen Interaktionsangebote, die Zhang Lis Büro Team Minus während der Planungsphase für diverse Bevölkerungsgruppen bereithielt. Mittels VR-Brille konnte man sich durch Projektversionen bewegen. Zumindest technologisch geht dies über die meisten hiesigen Beteiligungsangebote an Nutzer*innen und Nachbar*innen hinaus.

Auch andere Projekte von Team Minus setzen stark auf den Faktor Bewegung. Beim Kulturzentrum Gujiaying Village im Pekinger Vorort Yanqing etwa ist das Dach aufgebogen. Besucher können darauf herumlaufen. Die Rampenform führt zu unterschiedlichen Positionierungen in Horizontale und Vertikale und damit zu verschiedenen Blickachsen.

Das Rampenprinzip wendet Team Minus auch im Aranya Ideas Camp and Community Center an, einer privat betriebenen Bildungseinrichtung. Dort wird man über die großflächigen Stege mitten in die Landschaft hineingetragen.

Und beim Jianamani-Besuchszentrum werden Besucher*innen ebenfalls in erhöhte Positionen gebracht, um von dort aus einen besseren Überblick über tibetische Kultstätten in der Umgebung zu haben.

Laufen und Sehen sind hier die wichtigsten Komponenten. Inwieweit Team Minus auch für optimale Raumausnutzung sorgt - ein weiteres Nachhaltigkeitsmerkmal von »Urban Ergonomics« - ist den Zeichnungen und Fotografien nicht zu entnehmen. Die Projekte wirken sehr großzügig; auf Raumeffizienz musste nicht geachtet werden.

Großzügigkeit und Unverwechselbarkeit, ja ein geradezu ikonischer Charakter sind mittlerweile auch typisch für einen bestimmten Sektor der chinesischen Architektur geworden. Zhang Li, der nicht nur neben seiner Planungstätigkeit an der Universität unterrichtet, sondern auch langjähriger Chefredakteur des Monatsmagazins »World Architecture« ist, sah in einem Interview mit dem Magazin »Arch Daily« eine ganze Reihe jüngerer und unabhängiger Architekten verführerische Bauten entwickeln, die das Auge umschmeicheln und vor allem Tourismus attraktiver machen. Das ist eine eher jüngere Tendenz. Erst in den frühen 2000er Jahren machten chinesische Architekten unabhängige Büros auf, als einer der Ersten auch Zhang Li. Oft sind diese Architekten im Ausland ausgebildet, profitieren teilweise auch vom Reichtum ihrer Eltern und können deshalb unabhängig arbeiten. »Ihnen steht der große Strom von Tausenden Architekten gegenüber, die in den staatlichen Institutionen sitzen. Sie prägen das Bild der chinesischen Städte«, sagt er. Vertretern beider Lager bescheinigt er eine immer höhere Qualität.

In Chinas Architekturszene tut sich also etwas. Sie ist weniger monolithisch, als man im Ausland denkt. Ikonische Bauten wie die Abfahrtsloipe der Free Styler und Snowboarder passen allerdings auch prächtig in die Propagandaoffensive der Kommunistischen Partei.

Unter diesem Gesichtspunkt bekommen die Körperübungen, zu denen man eingangs der Ausstellung animiert wird, einen ganz anderen Sinn. Man macht brav nach, was gefordert wird. Allerdings kann man dem virtuellen Spiel auch sachtes subversives Potenzial zubilligen, denn der ganze Ablauf macht deutlich, wie Lenkung funktioniert. Ob die Kommunistische Partei all die Free Styler lenken kann, die später die Piste benutzen, ist eine sehr offene Frage.

»Urban Ergonomics. Vom Stahlwerk über die Olympischen Spiele zum öffentlichen Raum«, bis 10. März, Aedes Architecture Forum, Christinenstr. 18-19, Berlin-Mitte; Di bis Fr 11 bis 18.30 Uhr, So und Mo 13 bis 17 Uhr.

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