Wie weit das Soziale reicht

Der Linken wird gern unterstellt, ihre Kernkompetenz zu vernachlässigen - eine Gegenrede

  • Halina Wawzyniak
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Linke habe ihren Markenkern des Sozialen vernachlässigt oder gar aufgegeben. Raunt es. Die Raunenden belegen nie, welches soziale Thema wie nicht ausreichend von wem behandelt wurde und worauf sie ihre These stützen. Die Fakten sprechen aber eher gegen ihre These.

Nehmen wir die Bundestagsfraktion der Linken in der 19. Wahlperiode. Diese hat 30 eigene Gesetzentwürfe eingebracht, 6 Große Anfragen, 2803 kleine Anfragen, 569 Anträge und 124 Entschließungsanträge. Bei den 569 Anträgen betreffen mehr als 150 Anträge, gezählt nach den Überschriften, soziale Fragen sowie Themen, die die Arbeitswelt betreffen. Und das sind nur die Anträge, deren Überschriften offenkundig das Thema Soziales und/oder Arbeit betrafen. Kein anderes Thema weist einen ähnlichen Umfang auf. Wenn auf den Seiten des Bundestages im Dokumentationssystem nach Sachgebieten gesucht wird, dann erscheinen dort für die Fraktion Die Linke im Bundestag für den Bereich Arbeit und Beschäftigung 103 Anträge, für Gesundheit 105 Anträge und für Soziale Sicherung 85 Anträge.

Halina Wawzyniak
Halina Wawzyniak ist Juristin und war von 2009 bis 2017 Bundestagsabgeordnete für die LINKE.

Ganz Schlaue könnten nun auf die Idee kommen zu sagen: Aber die Partei! Auch dort zeigt sich kein anderes Bild. Soweit ich mich an Kampagnen der Partei erinnern kann, ging es bei diesen um Gesundheit, Arbeit und Pflege. Die Parteitagsbeschlüsse sprechen eine ähnliche Sprache. Im Wahlprogramm stand die soziale Frage im Mittelpunkt.

Die gefühlte Wahrheit führt dazu, dass die Raunenden genau das tun, was sie anderen vorwerfen: über alle möglichen anderen Themen zu reden, nur nicht über Soziales. Und dabei wird ein Bild der Partei perpetuiert, das zwar nicht stimmt, aber geeignet ist, sich in den Köpfen festzusetzen. Auch bei Wählerinnen und Wählern, welche Die Linke wegen der sozialen Frage wählen (wollen).

All das verhindert auch eine notwendige Debatte darüber, was im 21. Jahrhundert eigentlich unter der sozialen Frage zu verstehen ist. Sozial ist eben nicht nur das Eintreten für die Interessen der Facharbeiterin, des Facharbeiters bei VW oder Daimler, der Rentner*innen und der Erwerbslosen. Sozial ist es auch, sich für die prekär Beschäftigen im Wissenschaftsbetrieb oder die kleinen Solo-Selbstständigen einzusetzen. Sozial zu denken bedeutet, über den Tellerrand des Nationalstaates hinauszuschauen. Es gehört zum Sozialen, die sozial ausgegrenzten und marginalisierten Menschen im globalen Süden in den Blick zu nehmen, denn der globale Norden lebt auf ihre Kosten und trägt zu ihrer Armut bei. So betrachtet fällt dann aber unter Soziales auch, Verbesserungen der Lebensbedingungen im globalen Süden auf die Tagesordnung zu setzen. Aus diesem Blickwinkel sind Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Ersatzfreiheitsstrafe, Beförderungserschleichung oder Entkriminalisierung des Containerns ebenfalls soziale Themen. Weil nämlich Diejenigen mit ausreichendem Einkommen von diesen Regelungen nicht so hart betroffen sind wie Menschen mit geringem oder keinem Einkommen oder Transferleistungsempfangende.

Gleiches trifft auf den Zugang zum Gesundheitswesen zu. Das fängt bei einer angemessenen und vernünftigen Entlohnung der dort arbeitenden Menschen an, insbesondere des Pflegepersonals, und reicht weiter bis zu der Frage, wer eigentlich wie einen Zugang zum Gesundheitswesen hat. Nicht nur in der Corona-Pandemie hat sich das gezeigt. Geflüchtete und Obdachlose brauchen genauso Zugang zum Gesundheitswesen wie alle Menschen - denn Gesundheit ist ein Menschenrecht.

Zu hören ist, Die Linke solle nicht grüner als die Grünen werden, und dieses Gendergedöns lenke doch eigentlich nur ab. Könnte es sein, dass es im Kern gar nicht um die Vernachlässigung des Sozialen geht, sondern um Ablehnung von gesellschaftlichem Wandel und - damit einhergehend - um den Verlust eigener, häufig gar nicht als solche wahrgenommener Privilegien? Wer für Soziales First und Klima Second eintritt, hat nicht im Blick, dass in einigen Jahrzenten kein Kampfplatz für soziale Gerechtigkeit mehr existiert, wenn die Menschheit so weiterlebt wie bisher. Weil unsere Lebensgrundlagen sich erschöpft haben. Deshalb geht es darum, Soziales und Klima zusammenzudenken. Ja, das stand vor mehr als 100 Jahren nicht bei den Klassikern (Marx und Engels). Aber deshalb ist es noch lange nicht falsch.

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