Notfalls das Messegelände

Der Senat gibt sich zuversichtlich, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine unterbringen zu können

  • Nicolas Šustr und Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

»Lessons learned«, verspricht die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) am Dienstag in der Pressekonferenz nach der Senatssitzung. Mit Blick auf die nun eintreffenden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine habe man die Lehren aus der Verwaltungskrise 2015 gezogen, als Berlin Tausende täglich aus Syrien ankommende Flüchtlinge nicht ansatzweise adäquat empfangen und versorgen konnte. Der Senat hat jetzt in der Senatskanzlei eine Steuerungsgruppe eingerichtet, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Ihr gehören die Innen-, die Finanz- und die Integrationsverwaltung an, auch die Bezirke werden bei Fragen der Unterbringung eingebunden.

»Das heißt nicht, dass es ein Kinderspiel ist, aber auf jeden Fall gibt es eine ganz andere Aufstellung und die Strukturen sind anders«, zieht Integrations- und Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) noch einmal den Vergleich zu 2015.

Luise, eine ehrenamtliche Helferin, die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist von der bisherigen Unterstützung der Flüchtlinge durch den Senat sehr enttäuscht. In der Nacht zu Dienstag steht sie mit anderen Helfer*innnen am Zentralen Omnibusbahnhof bei der Berliner Messe, um Menschen aus der Ukraine willkommen zu heißen. »Es war doch seit Tagen klar, dass die Leute kommen, aber dort gab es keine Informationen, keine Hilfsorganisation, nichts«, kritisiert die Berlinerin. Zwei Menschen hätten dort improvisiert Getränke an die erschöpften Ankommenden ausgegeben. »Wo sind Caritas, AWO, die Landesämter für Flüchtlingsangelegenheiten und Soziales?«, fragt die Helferin.

»Die Menschen sind seit Freitag unterwegs, wir haben dann zu zweit drei Frauen zum Hauptbahnhof gebracht, um sie in einen Zug zu setzen, weil sie zu Bekannten weiterfahren wollten«, berichtet Luise. Auch dort habe es ausschließlich ehrenamtliche Helfer*innen gegeben, die die ganze Nacht Ankommende versorgt, privat untergebracht oder zum Ankunftszentrum in Reinickendorf begleitet hätten. Die Situation dort gestalte sich anders absurd, erklärt Luise: »Dort gibt es 300 Plätze, es sind aber viel mehr Menschen, und allein schon wenn jemand mit einem Tier kommt, wird er dort nicht reingelassen«, beschreibt sie die Probleme. Als irrwitzig bezeichnet die Helferin den Umstand, dass nach ihren Erfahrungen von den Ankommenden verlangt werde, einen Asylantrag zu stellen, um staatliche Unterstützung zu bekommen. Das sorge für große Verwirrung, weil die meisten Ankommenden davon ausgehen, dass sie das nicht tun sollen und dann unverrichteter Dinge wieder umkehren. »Nur die private Unterbringung verhindert gerade, dass Familien, Frauen und Kinder mitten in der Nacht auf der Straße stehen.«

In den Schilderungen der Sozialsenatorin am Dienstag stellt sich die Situation anders dar. »Es gibt noch keine offizielle Registrierung, weil die Menschen visafrei hierherkommen können«, so Kipping. Einen Asylantrag zu stellen, sei aufenthaltsrechtlich die »ungünstigste Variante«, weiß auch sie. Denn als offizielle Kriegsflüchtlinge dürfen die Menschen sofort hier arbeiten und können sich frei bewegen. »Wir warten voller Ungeduld, dass von Brüssel oder dem Bund die aufenthaltsrechtliche Einstufung nach Paragraf 24 als Kriegsflüchtlinge kommt«, sagt Kipping. Nach der »Massenzustromrichtlinie« der EU müssen mindestens 15 Staaten, die mindestens zwei Drittel der EU-Bevölkerung repräsentieren, diesen Status für die Ukrainerinnen und Ukrainer beschließen. »Es ist nicht unsere Unentschiedenheit«, sagt die Senatorin.

»Wir begrüßen die Initiativen aus der Zivilgesellschaft, ruhen uns aber nicht darauf aus«, verspricht Kipping. So habe man sich in der Nacht von Sonntag zu Montag darauf eingestellt, dass 300 Kriegsflüchtlinge mit einem Zug aus Polen ankommen. »Ein Großteil der Menschen, die da ankamen, sind aber privat abgeholt worden«, berichtet die Linke-Politikerin. Am Wochenende seien 400 und am Montag 350 Flüchtlinge untergebracht worden. Vor allem Frauen und ältere Kinder kämen derzeit, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien kein starkes Problem. Zunächst werden die Leute zum Ankunftszentrum in Reinickendorf gebracht und dann weiterverteilt. Wieder in Betrieb genommen worden ist eine Containerunterkunft in Pankow und eine frischrenovierte Immobilie in Lichtenberg, die zusammen 700 Plätze haben.

»Wir richten uns zunächst auf 20.000 Menschen ein«, sagt die Regierende Bürgermeisterin. »Wir sehen, dass bisher auch sehr, sehr viele privat untergekommen sind, weil wir in Berlin eine große ukrainische Community haben«, so Giffey weiter.

»Seit Donnerstagmorgen gehen bei uns Angebote von Objekten ein, teilweise von ganzen Gebäuden«, sagt Integrationssenatorin Kipping. »Wenn die Dynamik einen Sprung macht, brauchen wir schnell etwas Großflächiges«, weiß auch sie. »Noch wäre es überdimensioniert, wenn wir die Messe oder den Flughafen Tegel nehmen würden.« Doch in dieser »unglaublich dynamischen Situation« könne sich das schnell ändern. Hilfswillige bittet sie bei manchen Dingen noch um »ein bisschen Geduld: Sachspenden sind heute noch nicht das Hauptproblem.«

Die Herausforderungen erstrecken sich über viele weitere Bereiche. Schulkinder aus der Ukraine sollen zunächst in den normalen Klassen untergebracht werden, denn die Einrichtung spezieller Willkommensklassen benötigt dann doch mehr Vorlauf, lässt Giffey wissen. Der Objektschutz an ukrainischen und russischen Einrichtungen und auch Gedenkorten ist bereits in der vergangenen Woche erhöht worden. Das gelte auch für den Schutz des Berliner Landesnetzes vor Cyberattacken.

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