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  • Radsport und Ukraine-Krieg

»Wir leben in einer eigenen Welt«

Der Radsport sprach Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges aus. Das Groteske: Manche Russen starten. Ausländer in russischen Teams aber nicht

  • Tom Mustroph, Murlo
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Ort ist überschaubar, nur etwa 2000 Menschen leben in Murlo. Die Fernfahrt Tirreno Adriatico hat das Dorf in der Nähe von Siena in der Toskana dennoch zum Etappenort erwählt. Unter den Schaulustigen ist auch eine Schulklasse. Die Kinder haben statt der üblichen Klatschpappen, die Sponsoren gern bereithalten, selbst gemalte Transparente mitgebracht. Darauf äußern sie ihren Wunsch nach Frieden, nach einem Ende des Krieges in der Ukraine.

Diese Kinder haben den bislang deutlichsten Protest gegen Russlands Angriffskrieg bei diesem Profiradrennen hervorgebracht - und damit die Erwachsenen beschämt. Natürlich gab es auch eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer des Krieges. Und wenn der Name des ukrainischen Radprofis Mark Padun aufgerufen wird, des einzigen Ukrainers im ganzen Peloton, brandet extra Applaus auf. Padun selbst reitet aber nicht die Woge der Sympathie. »Ich will mein Rennen hier fahren, es gut fahren. Zur politischen Situation möchte ich mich nicht äußern. Bitte haben sie dafür Verständnis«, sagt er gegenüber »nd«.

Das sichtbarste - und doch unsichtbare - Zeichen dafür, dass am anderen Ende Europas ein Krieg tobt, ist bei diesem Radrennen in Italien eher, dass ein Teambus weniger als geplant an Start und Ziel steht. Aufgrund der Sanktionen gegen Russland wurde der Rennstall Gazprom Rusvelo vom Wettkampf ausgeschlossen. »Wir befinden uns hier in einer Linie mit der Politik und auch mit dem internationalen Sport«, sagt Renndirektor Mauro Vegni. Ein eigenes kleines Signal hat er auch gesetzt. »Wir hatten viele Anfragen von Teams, die nachrücken wollten. Wir haben uns dann aber entschieden, den Platz freizulassen«, erzählt er.

Diese Episode ist typisch für die Stimmung, die im Radsport herrscht. Einerseits ist das Entsetzen über den Krieg groß. »Das ist eine schlimme Situation. Mit einem Krieg in Europa hat im Jahr 2022 niemand gerechnet«, sagt etwa der deutsche Radprofi Emanuel Buchmann dem »nd«. Andererseits ist die Neigung, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und alles andere auszublenden, weitverbreitet. »Wir leben hier in unserer eigenen Welt, sind mit den Planungen für das Rennen beschäftigt, wann wer auf der Rolle trainiert und aus welcher Richtung der Wind bläst«, erläutert Rolf Aldag, Buchmanns Sportdirektor beim Team Bora. Es ist natürlich nicht so, dass Aldag den Krieg darüber komplett vergessen würde. Noch im letzten Jahr betreute er schließlich selbst den Ukrainer Mark Padun als Sportlicher Leiter bei Bahrain Victorious. Beide wechselten danach das Team, dennoch nahm Aldag unmittelbar nach den ersten Angriffen Kontakt zu Padu auf, sprach ihm Mut zu. »Es ist etwas anderes, wenn man jemanden persönlich kennt, der betroffen ist, als wenn man den Krieg nur aus den Nachrichten wahrnimmt«, sagt Aldag nachdenklich.

Seinen Job macht er dennoch weiter, wie so viele hier. Nicht mehr an seine Arbeit denken mochte hingegen Jaroslaw Popowytsch. Der frühere Radprofi aus der Ukraine ist ebenfalls Sportlicher Leiter und sollte für den Rennstall Trek zur Fernfahrt Tirreno Adriatico. Dann aber bat er um eine Freistellung. »Ich habe den Kopf nicht frei dafür«, sagte er. Stattdessen hilft er nun ukrainischen Sportlern, nach Italien auszureisen, erzählt er in einem Videointerview. Er berichtet auch, einen Einberufungsbrief der ukrainischen Armee erhalten zu haben: »Ich weiß nicht, was das für mich bedeutet, ich bin ja in Italien.«

Bei der Videokonferenz ist auch Renat Khamidulin zugeschaltet. Der Teammanager von Gazprom Rusvelo verurteilt darin den Krieg. Er hat dem Weltverband UCI vorgeschlagen, mit der Mannschaft in neutral weißer Kleidung, weißen Fahrzeugen, ja sogar der Aufschrift »Frieden« darauf an Rennen teilnehmen zu können. »Wir wollten, dass der Radsport ein positives Zeichen setzt«, sagt er. Die UCI aber verzichtete und reagierte auch nicht auf Nachfragen des »nd« dazu.

Der Fall ist delikat. Es steckt viel Russland allein im Namen des Teams. Auch die Lizenz ist russisch. »Hauptsponsor ist aber die deutsche Filiale von Gazprom. Das Management des Teams wiederum sitzt in der Schweiz, der offizielle Sitz ist in Italien«, versichert Khamidulin. Und zum Team gehören neben neun russischen Profis auch sieben Italiener, zwei Tschechen, ein Spanier, ein Norweger und ein Profi aus Costa Rica. Für das Schicksal dieser Fahrer äußert sogar Betreuer Popowytsch Bedauern. »Sie haben einfach Pech in dieser Situation. Was können sie dafür, außer dass sie diesen Sponsor haben. Jetzt sehe ich viele Familien in Schwierigkeiten, und für Renat ist es noch komplizierter, einen Sponsor für das nächste Jahr zu finden«, meint Popowytsch nachdenklich.

Beim Tirreno, dem Frühjahrs-Etappenrennen zwischen den italischen Küsten des Tyrrhenischen und des Adriatischen Meeres, gibt es keine russisch-ukrainischen Begegnungen. Russische Profis sind nicht am Start. Sie dürften zwar unter neutraler Flagge Rennen bestreiten, wenn sie bei einem nichtrussischen Arbeitgeber unter Vertrag sind. Das betrifft aber nur ganz wenige Fahrer. Einer wäre Bora-Profi Alexander Wlassow. Der aber fährt gerade bei der parallel stattfindenden französischen Fernfahrt Paris - Nizza - und ist dort auf deutliche Distanz zum Krieg gegangen: »Ich will nur Frieden. Ich bin keine politische Person. Normale Menschen wie ich wurden gar nicht gefragt, ob sie diesen Krieg überhaupt wollen.«

Wlassow tritt dort auf dem Weg an die Mittelmeerküste als neutraler Fahrer an. »Seine Nationalität wird nicht erwähnt, bei einem Sieg würde keine Nationalhymne gespielt. Er darf nur aufgrund der arbeitsrechtlichen Bestimmungen fahren«, erklärt Enrico Della Casa, Präsident des europäischen Radsportverbands UEC. »Hat jemand einen nichtrussischen Arbeitgeber, hat er auch das Recht, seinen Vertrag zu erfüllen. Das kann man vergleichen mit einem russischen Techniker, der in Deutschland für die Telekom arbeitet«, führt Della Casa weiter aus. Bei den Sanktionen sieht er allerdings noch Luft nach oben. »In den nächsten Tagen wird es darum gehen, wie man mit Funktionären aus Russland und Belarus umgeht«, meint er.

Parallel dazu organisiert er konkrete Hilfe: »Wir richten einen Fonds für ukrainische Radsportler ein. In Abstimmung mit den Verbänden aus der Türkei, Polen und der Schweiz wollen wir ihnen mit Trainings- und Wettkampfmöglichkeiten helfen. Es geht um Sportler, die sich bereits in diesen Ländern aufhielten und dann durch den Krieg am Weiterreisen gehindert wurden.« Noch pragmatischer ging vor ein paar Tagen der zweitklassige polnische Rennstall HRE Mazowsze Serce Polski vor. Statt zu Radrennen zu fahren, setzte das Team den eigenen Bus zum Transport von Geflüchteten aus der Ukraine ein. Da war er sicherlich von besserem Nutzen.

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