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Der Imperator

Der Roman »Die Jagd« von Sasha Filipenko ist ein Porträt der russischen Gesellschaft, in dem sich jeder mit Entsetzen wiederfinden kann

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Jahre nach dem politisch brisanten Roman »Der verlorene Sohn« brachte der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko 2016 den Roman »Die Jagd« heraus. Der war damals ebenso aktuell wie der Erstling - mit dem Unterschied, dass der 1984 in Minsk geborene Autor diesmal den Fokus auf Russland richtete, Belarus aber im Hinterkopf behielt. Allerdings wurde der Ton seiner Kritik an den geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen merklich schärfer. Die Moskauer Zeitung »Snob« urteilte, »Die Jagd« sei »eine authentische Fotografie unserer Zeit, ein Porträt unserer Gesellschaft, in dem sich jeder mit Entsetzen wiederfinden kann«. Der Roman schaffte es damals auf die Shortlist des russischen Preises »Bolschaja Kniga« und die Longlist des »Russkij Buker«.

Filipenko verriet einmal, dass die Idee zur »Jagd« auf sein Studium als Cellist zurückgeht. Deshalb habe er auch den Cellisten Mark Smyslow zu seiner Hauptfigur bestimmt. Er habe sich schon immer für die künstlerische Seite eines musikalischen Werkes, insbesondere für die Komposition interessiert. In der Form solle »Die Jagd« einer Sonate gleichen. Tatsächlich verläuft die Romanhandlung wie der Kopfsatz einer klassischen Sonate, von der vierteiligen Exposition mit Haupt-, Zwischen-, Seiten- und Endsatz über die Durchführung und die Reprise bis zur Coda. Zahlreiche Pausen zwingen den Leser, alle Stimmen des Sonaten-Romans zu hören.

Nicht umsonst aber hat Filipenko in Petersburg auch sechs Jahre französische Literatur und Philosophie studiert. Gern orientiert er sich deshalb am Stil des Franzosen Louis-Ferdinand Céline und an dessen Maxime, so zu schreiben, »wie die Menschen sprechen«. Deshalb ist »Die Jagd« stark umgangssprachlich geprägt, weist eine Vielzahl von Dialogen auf und erzielt durch den raschen Perspektivenwechsel ein beachtliches Erzähltempo. Ruth Altenhofer hat diesen kunstvoll gestalteten wie konfliktreichen Text souverän übersetzt.

Die »Einleitung« zum Roman macht mit dem Leben der postsowjetischen sozialen Schicht der Global Russians bekannt. Der Petersburger Oligarch Wolodja Slawin, der durch Geldwäsche reich geworden ist, verfügt nicht nur in Russland über unermessliche Besitztümer und Privilegien, er besitzt auch ein Anwesen in Juan-les-Pins an der Côte d’Azur, wo früher Charlie Chaplin, Marlene Dietrich und Coco Chanel Urlaub machten.

Natürlich leben die Slawins auch hier streng à la russe und blicken hochnäsig auf die Franzosen herab. Ihr Idyll wird gestört durch einen Artikel des Journalisten Anton Quint in der heimatlichen Presse, der die ausländischen Konten und Immobilien Slawins sowie die teuren Schulen seiner Kinder der Öffentlichkeit preisgibt. Die russische Finanzkrise 1998 treibt Slawin in den Bankrott.

Um wieder Oberwasser zu bekommen, zieht er nach Moskau, mimt den großrussischen Patrioten und orthodoxen Christen. Er setzt alles daran, Quint »das Maul zu stopfen« und ihn aus dem Land zu jagen. Dazu engagiert er willfährige Helfer wie den korrupten Journalisten Lew Smyslow und sorgt dafür, dass Medien und soziale Netzwerke Quint als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter und Kinderschänder anprangern.

Quint ist ein investigativer Journalist mit liberalen Ansichten, die er in provokanten Zeitungsartikeln und dystopischen Prosaetüden vertritt. Der frischgebackene Vater einer Tochter wagt es, sich mit den Mächtigen anzulegen. In einem seiner literarischen Texte fällt der Satz: »Unser Imperator spricht in Worten, die nichts bedeuten, sein Gefolge denkt sich Gesetze aus, die keinen Sinn ergeben.« Es dauert nicht lange, bis Quint vom Jäger zu einem auf brutalste Weise Gejagten wird, den Lew Smyslow und seine Trabanten fast in den Wahnsinn treiben, sodass er am Ende sogar den Tod der eigenen Tochter verschuldet. Russland verlassen aber will er nicht.

Den größten Teil des Romans erzählt der Journalist Lew Smyslow seinem Bruder, dem Cellisten Mark. So erfahren wir vom sozialen Abstieg der Familie unter dem Jelzin-Regime, Lews Demütigungen während der Schulzeit und seiner Karriere als Chefredakteur einer Zeitung. Den Posten bekommt er nur, weil er die Tochter des Zeitungsbosses heiratet. Im Dienste Slawins erweisen sich Lew und sein Romafreund Kalo als skrupellose Schreiberlinge. Lews Beichte vor seinem Bruder Mark illustriert die Vita eines gefühlskalten und gewissenlosen Antihelden unserer Zeit.

Mit dem Roman »Die Jagd« hat sich Sasha Filipenko als systemkritischer Schriftsteller bravourös durchgesetzt. Wegen des souveränen Gebrauchs von Witz und Ironie vergleichen ihn die einen mit Wassili Axjonow, dem Autor des Romans »Apfelsinen aus Marokko«, andere sehen in ihm aufgrund der sprachlichen Parallelen zum Roman »Die Schule der Dummen« einen Schüler Sascha Sokolows. Dritte meinen, seine langen Dialoge und expliziten Gewaltszenen erinnern an die Filme Quentin Tarantinos.

Seit 2020 fehlt Filipenko seine Heimat Belarus als Wirkungskreis. Er ist dort unerwünscht und mit seiner Familie auf der Suche nach einem Exil. Weihnachten 2021 verbrachte er in Amsterdam in der früheren Wohnung der Eltern von Anne Frank.

Sasha Filipenko: Die Jagd. A. d. Russ. v. Ruth Altenhofer. Diogenes, 288 S., geb., 23 €.

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