Viele Zähne, wenig vergleichbare Daten

Schon in den europäischen Staaten sind die Unterschiede bei Finanzierung und Zugang zu zahnärztlicher Versorgung immens

Bezogen auf die gesamte Lebenszeit hat jeder Mensch in Europa irgendwann zahnärztlichen Behandlungsbedarf. Weltweit werden für die Mundgesundheit geschätzt jährlich 144 Milliarden US-Dollar ausgegeben. Diese Summe kann kaum vollständig sein, denn allein in Deutschland schlagen für die Behandlung von Mund- und Kiefererkrankungen jährlich 26 Milliarden Euro zu Buche. Die beiden Zahlen zeigen, dass Menschen außerhalb der Industrieländer vermutlich sowohl schlechter versorgt sind als auch gleichzeitig bessere Zähne haben dürften. Hierzu jedoch genaue Aussagen zu treffen, erweist sich schon bei der ausschließlichen Betrachtung der Situation in Europa als schwierig. Insofern ist es sinnvoll, dass sich die jährlich in Berlin stattfindende Konferenz »Armut und Gesundheit« ebenfalls dieses Gegenstandes angenommen hat.

Das allgemein lange übersehene Thema ist die Verbindung der Mundgesundheit mit chronischen Krankheiten und dem gesamten Gesundheitszustand. Das ändert sich langsam. Die Weltgesundheitsorganisation WHO widmete dem Thema 2021 eine Resolution, bei der führenden Medizinzeitschrift »Lancet« wurde 2019 eine Oral Health Commission eingerichtet. Über diese Bemühungen berichtete auf der Berliner Konferenz Juliane Winkelmann von der TU Berlin. Die Sozialwissenschaftlerin ist auch für das European Observatory on Health Systems and Policies tätig. Für Forscher wie Winkelmann zeigt sich jedoch, dass es relativ wenig Wissen über die Unterschiede in Versorgung, Finanzierung und Leistungsangeboten schon in den europäischen Ländern gibt.

Einige Eckpunkte wurden in einem Heft der Reihe »Health in Transition« zusammengetragen. Demnach liegt Deutschland bei der Prävention in Sachen Mundgesundheit im hinteren Mittelfeld. Der Anteil der Ausgaben für Mundgesundheit liegt hierzulande bei 6,6 Prozent aller Gesundheitskosten. Auch bei den Pro-Kopf-Ausgaben liegt Deutschland im europäischen Vergleich vorn. Zugleich wird immer noch ein sehr großer Teil von den Patienten privat finanziert - das relativiert sich allerdings, weil bei dieser Kennziffer die Bundesrepublik noch gut dasteht. Hierzulande werden 68 Prozent der Kosten über die gesetzlichen Krankenkassen finanziert, der Rest durch Eigenbeteiligung oder private (Zusatz-) Versicherungen. Das andere europäische Extrem ist Griechenland, wo die Menschen ihre Zahnarztkosten vollständig privat übernehmen müssen.

Wissenschaftler versuchen, Fragen der Gesundheitskostenfinanzierung unter drei Aspekten zu beantworten: Wer ist (gesetzlich) versichert? Welche Leistungen sind versichert? Welcher Anteil der Kosten wird abgedeckt? Die besten Werte bei der Teilabsicherung erreichen nach den vorhandenen europäischen Daten Deutschland, Österreich, die Schweiz und Luxemburg. Einige andere Länder finanzieren die Zahnmedizin nur für vulnerable Gruppen öffentlich. Jedoch sei der Trend in den meisten Ländern, die Versorgung auszuweiten, so Winkelmann.

In diese Richtung weisen unter anderem die verbesserte Parodontosevorbeugung und -behandlung in Deutschland oder auch die volle Erstattung von festem und herausnehmbarem Zahnersatz in Frankreich. In Portugal gibt es seit 2008 Behandlungsgutscheine für Kinder, Schwangere und ältere Menschen. Zahnmedizin wurde hier in das Behandlungsprogramm der meisten öffentlichen Gesundheitszentren aufgenommen.

Ebenfalls sehr vielfältig zeigt sich die europäische Landschaft bei der Finanzierung der Zahnmedizin und beim Zugang dazu. Ein großer ungedeckter Bedarf wegen fehlender finanzieller (auch gesellschaftlicher) Ressourcen besteht in dem Bereich etwa in Lettland, Portugal, Griechenland und Island. Andererseits schneiden einige Länder gut ab, in denen private Versicherungen eine wichtige Rolle spielen, darunter die Niederlande und Slowenien. Naheliegend ist außerdem, dass Menschen aus den oberen Einkommensgruppen eher auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen als andere.

Ein weiterer Einflussfaktor ist die Zahnarztdichte: Im europäischen Vergleich ist sie in Italien, Bulgarien und Rumänien am niedrigsten. Zu den Spitzenreitern gehören Estland, Luxemburg und Zypern, wobei die Zahl dieser Ärzte in allen Ländern steigt. Weiterhin sind sie aber vor allem in den Städten zu finden. Eine Ausnahme bei den Auswirkungen einer niedrigen Zahnarztdichte bilden die Niederlande: Hier gibt es zwar relativ wenige Zahnärzte, aber eine hohe Inanspruchnahme - also viele Besuche. Das liegt an der schon traditionellen Praxis, dass die Kosten übernommen werden, wenn die Bürger zweimal im Jahr den Arzt aufsuchen.

An der Berliner TU forscht ebenfalls Susanne Felgner. Die Doktorandin ging der Frage nach, was Patienten in Sachen Zahnersatz wollen und wie hoch ihre Zuzahlungsbereitschaft ist. Probanden wurden zum Beispiel zu einer vollständigen Krone befragt. 67 Prozent der Teilnehmenden hatten keine Zahnzusatzversicherung. Die Zahlungsbereitschaft für eine solche Krone im sichtbaren Bereich ging bis zu 600 Euro, während im nicht sichtbaren Bereich maximal 100 Euro akzeptiert wurden. Bedenklicher ist jedoch, dass mindestens ein Viertel der Befragten sich trotz medizinischer Notwendigkeit gegen eine Behandlung entschieden hätte, obwohl sie über ein Bonusheft weniger zuzahlen müssten. So führt auch der in Deutschland relativ niedrige Eigenanteil dennoch zu Ungleichheiten in der Versorgung.

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