Rucksäcke und Reiskochtöpfe

Berliner Vietnamesen helfen aus der Ukraine geflüchteten Landsleuten in Eisenhüttenstadt

  • Marina Mai, Eisenhüttenstadt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Vorplatz der Brandenburger Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt hat sich in einen Marktplatz verwandelt. Etwa zwanzig Vietnamesen aus Berlin sind gekommen, um hier aus ihren Autos heraus und von aufgebauten Campingtischen Hilfsgüter zu verteilen. Hilfsgüter für Vietnamesen aus der Ukraine. Rund 10 000 Vietnamesen lebten bei Kriegsbeginn in der Ukraine, sie waren dort eine der großen Zuwanderergruppen. Viele von ihnen konnten das Land gen Westen verlassen.

Die buddhistische Pho-Da-Gemeinde aus Berlin-Hohenschönhausen hat Suppe und fernöstliche Gerichte gekocht, Bananen und Milch gekauft und verteilt sie hinter den Tischen. Eine Gruppe von Geschäftsleuten, Dolmetschern und Mitarbeitern von Bildungsträgern, die sich über Facebook organisieren, haben Geld gesammelt und fabrikneue Hilfsgüter im Großhandel gekauft: Koffer, Rucksäcke, Föhne, Reiskochtöpfe, Unterwäsche und dicke Jacken. Dazu kommt getragene Kleidung.

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Ha Hausmann, Inhaberin einer Restaurant- und Bistrokette, ist schon das siebte Mal in Eisenhüttenstadt. »Wir bringen immer wieder Hilfsgüter, aber es kommen immer neue Vietnamesen«, sagt die 36-Jährige, die sich die Fingernägel in den ukrainischen Nationalfarben blau-gelb angemalt hat. Die Helfergruppe sei inzwischen mit den Vietnamesen von Eisenhüttenstadt im telefonischen Kontakt, frage deren Wünsche ab und kaufe die benötigten Waren im Großhandel.

Binh L. ist mit ihren drei Kindern im Alter zwischen drei und zehn Jahren in Eisenhüttenstadt. Sie kam als Kind von Vietnam nach Odessa, wuchs dort auf und arbeitete als Sekretärin in einem kleinen Betrieb. Ihre Eltern kehrten vor zehn Jahren nach Vietnam zurück.

Bei der Flucht aus Odessa musste Binh L. ihren ukrainischen Mann zurücklassen, der als Soldat zur Armee eingezogen wurde. Ihre älteste Tochter freut sich über einen gespendeten Rucksack. »Für die Schule«, sagt sie. »Ich habe wieder etwas für die Schule.« Binh packt den neuen Rucksack gleich mit vietnamesischem Essen vom Spendentisch voll, das sie in der Erstaufnahme warm machen wird. Sie freut sich auf die erste vietnamesische Mahlzeit seit der Flucht. Die junge Frau erläutert einer älteren Ukrainerin auf Russisch, was in den Essenschalen ist. Auch die Ukrainerin greift zu.

Die Mitsechzigerin stammt aus einem Vorort von Kiew, konnte mit ihrem Mann fliehen. »Meine Schwiegertochter und mein Enkel wurden von einer Bombe getroffen. Zu meinem Sohn, der in der Ukraine kämpft, habe ich seit vier Tagen keinen Kontakt«, sagt sie unter Tränen. »Ich habe keine Familie mehr.« In Eisenhüttenstadt hat sie Binh und ihre Kinder kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet. »Ich werde für die Kinder sorgen und kochen, wenn Binh Arbeit findet«, sagt sie. »Das ist eine Aufgabe, die ich noch schaffe.« Und in ihre Augen kommt wieder ein Lächeln, wenn sie sagt: »Die beiden jüngeren Kinder sagen schon Oma zu mir.« Auch Binh sieht die Freundschaft mit dem älteren ukrainischen Ehepaar als Erleichterung. »Meine Eltern leben ja in Vietnam und mein Mann in der Ukraine. Allein für drei Kinder zu sorgen, ist nicht einfach.«

Das Geld für die Verteilaktionen sammelt die buddhistische Gemeinde unter ihren Mitgliedern und unter vietnamesischen Geschäftsleuten. Wer Zeit hat, fährt mit, etwa zweimal pro Woche werden Eisenhüttenstadt oder Zossen angefahren, wo es eine Filiale der Erstaufnahme gibt.

In Berlin seien solche Verteilaktionen nicht nötig, denn Vietnamesen aus der Ukraine, die in die Hauptstadt kommen, kämen meist bei Verwandten oder Bekannten unter und hätten dort Zugang zu Hilfsnetzwerken, sagt Helferin Ha Hausmann. Die Solidarität unter Berliner Vietnamesen für ihre Landsleute aus der Ukraine ist riesig. Beispielsweise verköstigen einige vietnamesische Restaurants Neuankömmlinge aus der Ukraine kostenlos. Ein Fotostudio eines deutsch-vietnamesischen Ehepaares in Lichtenberg fertigt für sie zum Materialpreis die Passbilder, die für die Registrierung benötigt werden. Kleidung und kleine Elektrogeräte werden über private Netzwerke weitergegeben.

Mehr als 1000 Vietnamesen aus der Ukraine sind ab Warschau oder Bukarest mit Evakuierungsflügen nach Vietnam zurückgekehrt. Darunter sind vor allem solche, die noch nicht lange in der Ukraine lebten, beispielsweise als Studenten dort waren. Darunter sind aber auch etliche Kinder von Vietnamesen, die in Deutschland und anderen europäischen Staaten leben. Ihre Eltern haben sie zu Verwandten nach Vietnam geschickt, bis sie in Europa Fuß gefasst haben oder auch, weil sie auf ein schnelles Ende des Krieges hofften. Denn wer es nach Deutschland geschafft hat, der will auch in Europa bleiben.

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