Wie alles begann

Der Kapitalismus ist zufällig im Venedig des 14. Jahrhunderts entstanden, behauptet der Wirtschaftswissenschaftler Jannis Milios

  • Dimitra Alifieraki
  • Lesedauer: 8 Min.
Hier trafen Geldbesitzer und eigentumslose Proletarier aufeinander: Das Handelszentrum Venedig als Geburtsort des modernen Kapitalismus.
Hier trafen Geldbesitzer und eigentumslose Proletarier aufeinander: Das Handelszentrum Venedig als Geburtsort des modernen Kapitalismus.

Nicht neu, aber nach wie vor umstritten ist die Frage, der Jannis Milios nachgeht: Wo ist der Kapitalismus entstanden? Das ist kein simples historiographisches Unterfangen. Denn wer nach der Geburtsstätte des Kapitalismus fragt, so der griechische Marxist und Wirtschaftswissenschaftler, muss zuerst bestimmen, was das spezifisch Kapitalistische am Kapitalismus ist. Und diese Bestimmung scheint nicht weniger umstritten als die Frage nach dem Ursprung. In der kürzlich im Dietz-Verlag erschienenen Studie über die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus stellt Milios eine Reihe von mittlerweile klassischen - marxistischen wie nicht-marxistischen - Ansätzen vor. Von divergierenden Auffassungen vom Kapitalismus ausgehend, bestimmen diese für dessen Geburtsstunde verschiedene Orte und Zeiten: Babylon, die griechische Antike, das römische Reich, das feudale England, die englische Großindustrie, die damals kolonialisierten Länder Südamerikas und das spätmittelalterliche Mittelmeer konkurrieren darum, Urstempel des Systems zu sein, das wir viele Jahrhunderte später fertig vorgefunden haben.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Entstehung und Reproduktion

Milios bewegt sich in seiner Studie auf zwei Ebenen - einer theoretischen und einer historischen. Die theoretische Ebene expliziert die formalen Bedingungen, unter denen von etablierten kapitalistischen Verhältnissen die Rede sein kann. Darauf aufbauend unterzieht Milios mehrere Ansätze zur Entstehung des Kapitalismus einem Crashtest den sie nicht bestehen - die Autor*innen hätten sich geirrt.

Allen herangezogenen Ansätzen beziehungsweise Denktraditionen - die deutsche historische Schule der Nationalökonomie, die Weltsystemtheorie, die Brenner-Debatte - gerate nach Milios aus den verschiedensten Gründen das spezifisch Kapitalistische am Kapitalismus aus dem Blick, weshalb sie auf eine Überhistorisierung des Kapitalismus hinauslaufen. Am häufigsten begegnet man der Vorstellung, Kapitalismus sei mit dem Unternehmertum gleichzusetzen, womit jedwede geldvermehrende Tätigkeit ohne Weiteres kapitalistisch wäre. Nur Fernand Braudel, der prominente Historiker der Annales-Schule, ist sich Milios zufolge über den Unterschied zwischen kapitalistischen und vorkapitalistischen »Unternehmungen« im Klaren, allerdings vernachlässige er die Rolle der Klassenausbeutung und ihrer jeweils spezifischen Formen.

Milios’ Crashtest ist freilich kein rein logischer. Denn mit formalen Bedingungen ist hier nicht gemeint, dass der Kapitalismusbegriff von den realen kapitalistischen Verhältnissen absehend abgeleitet werden kann. Der Methode der Kritik der politischen Ökonomie im Sinne Marx’ folgend, versucht Milios vielmehr im theoretischen Teil seiner Studie an den nicht-konjunkturellen Faktoren festzuhalten, die jede soziale Formation aufweisen muss, um überhaupt als kapitalistisch verfasst zu gelten. Die theoretische Ebene der Studie verfährt quasi »von hinten nach vorne«: Die Wissenschaft schaut sich ihr Objekt in seiner bereits herausgebildeten Gestalt an und bestimmt die gesetzmäßigen Merkmale, die ihm seine Reproduktion ermöglichen.

Fürs Untersuchungsobjekt Kapitalismus sind diese, so Milios: Lohnarbeit als herrschende Form der Surplusaneignung, daraus folgend eine Lohnarbeiter*innenklasse, Tauschwert und Geld als Treibkraft der Wirtschaft, Konzentration der Produktionsmittel in der Hand der Kapitalist*innenklasse sowie deren Rückzug vom Arbeitsprozess, freie Konkurrenz und Bindung der individuellen Kapitale zu gesamtgesellschaftlichem Kapital, finanzielle Existenzweise des Kapitals sowie Herausbildung einer spezifischen rechtspolitischen und ideologischen Instanz und einer ihr entsprechenden Staatsform.

An diesem Punkt allerdings, da ist Milios sicher, muss die Suche nach der Gesetzmäßigkeit enden. Die historische Ebene betritt hier die Bühne: Sobald es nicht mehr um die Reproduktionslogik eines bereits vorhandenen Kapitalismus, sondern um seine Entstehungsgeschichte geht, ist die konkrete historische Lage, die Konjunktur, unter die Lupe zu nehmen, um neuartige Ereignisse zu untersuchen. Es gilt hier zu erklären, wie das in unseren Augen fertige Produkt Kapitalismus einmal nicht fertig war. Wie es also aus der Begegnung verschiedener Elemente entstehen konnte, die ihrerseits eine eigene Geschichte aufwiesen und einen anderen Weg hätten nehmen könnten.

Zufall und Notwendigkeit

Der Kapitalismus vermöge sich zwar anhand einer Reihe von Bedingungen zu reproduzieren, er hätte aber nicht eintreten müssen, so Milios’ zentrale These. Seine Entstehung sei durch das Zusammentreffen einer Reihe von Bedingungen möglich geworden, die nur in der spezifischen Konjunktion, in der sie einander begegnet sind, den Kapitalismus zum Ergebnis hatten. Milios zufolge sah das Ganze etwa so aus: Der »vorkapitalistische Geldbesitzer« begegnet im Venedig des späten 14. Jahrhunderts dem »eigentumslosen Proletarier« in einer einzigartigen historischen Situation. Zwei bis drei Jahrhunderte zuvor war Venedig zu der größten Handelsmacht im Mittelmeer geworden und damit vom byzantinischen Reich nunmehr unabhängige Kolonialmacht. Für ihre Handelsgeschäfte brauchte sie viele Schiffe und musste dementsprechende Manufakturen gründen, die Schiffe, Seile und Münzen für den Handel herstellen.

Zu dem Zeitpunkt kann vom Kapitalismus noch nicht die Rede sein: Es gibt hier zwar einen - kollektiven - Geldbesitzer, den Staat, dieser ist aber noch nicht zugleich exklusiver Produktionsmittelbesitzer. Denn der andere »Pol«, die eigentumslosen Proletarier*innen, sind noch nicht vorhanden. Die Lohnarbeiter*innen in den Manufakturen und auf den Handelsreisen besitzen Teile der Produktionsmittel, so dass sie keine »vogelfreien« Proletarier*innen im Sinne Marx’ sind. Dazu werden sie erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Ausweitung riesiger, staatsverwalteten Manufakturen - vor dem Hintergrund der genuesisch-venezianischen Kriege, der ökonomischen Antagonismen im Mittelmeer, der Krise des venezianischen Kolonialismus und der Pest - macht die Lohnarbeit zur dominierenden Form der Aneignung fremder Mehrarbeit, zur herrschenden Ausbeutungsform anhand eines Vertragsverhältnisses. Zu einem spezifisch kapitalistischen Verhältnis wird es nach Milios erst jetzt, wo eine produktionsmittelfreie, arbeitende Klasse im großen Rahmen von einer nicht arbeitenden ausgebeutet wird.

Parallel dazu etabliert sich das Kapitalverhältnis in den Handelsreisen. Die Geldbesitzer, die sich staatlicher Schiffe bedienen und andere, die eigene private Schiffe besitzen, werden, indem sie eigentumslose Proletarier rekrutieren, zu Kapitalisten. Eine weitere Entwicklung, die den venezianischen Staat in kapitalistische Verhältnisse führt, ist die Entwicklung eines komplexen Finanzsystems aufgrund der Kriegsschulden. Der Staat Venedigs weist zudem ab dem 14. Jahrhundert die spezifisch kapitalistische Besonderheit auf, die Einwohner*innen des venezianischen Gebietes von ihrem sozialen Status absehend auf rechtlicher Ebene abstrakt gleich zu behandeln. Ebenso kapitalistisch ist an diesem Staat, dass er langsam einen »unpersönlichen« Charakter annimmt, indem er sich von der herrschenden Klasse teilweise verselbstständigt und den ideologischen Effekt einer Neutralität erzeugt, der dem Konsens von unten und der Zustimmung der Bevölkerung Vorschub leistet.

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Neue Produktionsweisen

Die geläufige Vorstellung innerhalb des traditionellen Marxismus-Leninismus, der zufolge die Produktionsweisen mit einer wissenschaftlich erschließbaren Notwendigkeit in der Geschichte aufeinanderfolgen, sieht im Kapitalismus das notwendige Produkt eines gereiften Feudalismus. Im Gegensatz dazu plädiert Milios für eine nicht-teleologische Auffassung der Abfolge der Produktionsweisen. Er sieht mithin kein notwendiges historisches Produkt im Kapitalismus, sondern ein schlicht Zufälliges, dessen singulärer Entstehungsprozess sorgfältig untersucht und rekonstruiert werden muss, ohne allerdings das historisch Entstandene auf die Vergangenheit zu projizieren. Dort, in der Vergangenheit, kann man sich die Elemente aussuchen, deren singuläre historische Artikulation die Entstehung des betrachteten Objekts ermöglicht hat, ohne die »erste« Artikulation der Elemente als bereits vorhandene vorauszusetzen: Der Geldbesitzer hat eine andere Geschichte als der eigentumslose Proletarier, so dass ihre historisch bedingte Begegnung nicht verdinglicht werden darf.

Die Gesetzmäßigkeit der »Begegnung« zwischen dem Geldbesitzer und dem eigentumslosen Proletarier sei dagegen erst nach dem »Greifen« beziehungsweise der Verfestigung ihrer zufälligen Begegnung zu suchen. Diese epistemologische Haltung ist auch die von Marx’ Ökonomiekritik: Die Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus verortet er - wenigstens dort, wo er sich nicht selber im geschichtsteleologischen Diskurs verwickelt - auf der Ebene der Reproduktion des Systems, das heißt, auf der Ebene der schon gelungenen, etablierten und nun sich wiederholenden Begegnung. Mit anderen Worten, die Frage der Gesetzmäßigkeit des Systems trifft nicht auf seine Entstehungsbedingungen, sondern auf seine Reproduktionsbedingungen zu. Milios stützt sich hier auf den Ansatz des französischen Marxisten Louis Althusser. Letzterer hat in seinen Spätschriften eine Materialismusauffassung entwickelt, die sich jeder Art von Teleologie zu entledigen sucht: »Wie jeder Materialismus rationalistischer Prägung (ist) ein Materialismus der Notwendigkeit und der Teleologie (...) eine abgeänderte und maskierte Form des Idealismus«, schreibt Althusser.

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Frage des Ursprungs

Schließlich stellt sich die Frage: Was steht bei Milios’ Anliegen auf dem Spiel? Meines Erachtens zweierlei. Erstens der Versuch, jene passivitätsbejahende Determinismen, die die Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung als vorgeschrieben betrachten, zu dekonstruieren. Zweitens die Bemühung, die finanzielle Existenzweise des Kapitals als strukturelles Merkmal des Kapitalismus nachzuweisen, indem er am Beispiel Venedigs die Figur des Geldbesitzers und des vorkapitalistischen Kaufmanns- und Wucherkapitals als wegbereitend für die allmähliche Einführung kapitalistischer Verhältnisse zeigt. Damit möchte er die lang herrschende Vorstellung in Frage stellen, die die Rolle des Geldes bei der Entstehung des Kapitalismus unterschätzt und letztere auf die Geldanhäufung von wohlhabenden Bauern sowie Grundbesitzer zurückführt.

Milios’ Studie vermeidet bewusst, auf zeitgenössische Debatten über die behauptete Aktualität und ständige Wiederbelebung der ursprünglichen Akkumulation einzugehen - wie beispielsweise bei David Harvey und Klaus Dörre. Das wäre jedoch relevant, um sichtbar zu machen, warum die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus nicht nur für Historiker*innen, sondern auch für die heutzutage allerorts Ausgebeuteten relevant ist. Immerhin wirft Milios’ Studie eine spannende politische Frage auf: Wie tief muss man in der Entwicklungsgeschichte der bestehenden Verhältnisse graben, wenn man sie überwinden möchte?

Jannis Milios: Eine zufällige Begegnung in Venedig. Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Dietz-Verlag, 295 S., br., 30 €.

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