Die Menschen hinter den Nummern

Eine gesetzliche Betreuerin kümmert sich um Kranke. Viele sind alt, manche obdachlos

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 7 Min.
Gesetzliche Betreuer kümmern sich um Menschen, die sich nicht um sich selbst kümmern können.
Gesetzliche Betreuer kümmern sich um Menschen, die sich nicht um sich selbst kümmern können.

Es klopft an der Tür der städtischen Betreuungsstelle. »Herein«, ruft der erfahrene Sozialarbeiter Ulrich Fecke, nachdem er gerade ein Telefongespräch beendet hat. »Das war die Kriminalpolizei. Eine Person wird seit zwei Monaten vermisst. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Suizid vorliegt und die Leiche nicht gefunden wurde.«

Erst vor kurzem hatte Ulrich Fecke von dem Beschluss erfahren, dass für die junge, psychisch kranke Frau eine Berufsbetreuerin bestellt worden war. Der Fall wurde der selbständigen Betreuerin Katharina Wagner zugeteilt. Jetzt versucht Ulrich Fecke, sie zu erreichen. »Dies ist natürlich ein Extremfall. Bei der gesetzlichen Betreuung geht es nicht immer um Leben und Tod. Aber in diesem Fall machen wir uns natürlich alle Sorgen und hoffen, dass die betroffene Frau bald gefunden wird, damit die Betreuerin ihr helfen kann.«

Ulrich Fecke wählt die Nummer von Katharina Wagners Büro. Das liegt keine 500 Meter entfernt in einem Coworking-Space. Vor 30 Jahren ist die Diplomsoziologin als damals siebenjähriges Mädchen aus Kasachstan nach Deutschland migriert. »Ich würde sagen, dass ich schon als Kind so was wie eine gesetzliche Betreuung übernommen habe, für meine Eltern«, erinnert sie sich an diese Zeit. »Weder meine Mutter, noch mein Vater sprachen Deutsch. Ich hatte das schon im Kindergarten gelernt. Nach unserer Ankunft in Deutschland mussten viele Dinge auf den Ämtern geklärt werden. All diese Behördenangelegenheiten haben meine Eltern nicht verstanden.«

Die kleine Katharina war Dolmetscherin, sie hat Formulare ausgefüllt und ihre schwangere Mutter zum Arzt begleitet. »Auch im Kindergarten meiner kleinen Geschwister habe ich übersetzt. Ich war die Ansprechpartnerin der Erzieherinnen. Das alles hat mich geprägt und sicher auch vorbereitet auf diese Arbeit.«

Heute ist Katharina Wagner eine Berufsbetreuerin, die ihre Fälle von der städtischen Betreuungsstelle zugeteilt bekommt. Dort arbeitet Ulrich Fecke. Seine Aufgabe ist es, das Amtsgericht bei der Einrichtung von Betreuungen zu unterstützen. »Wir suchen Antworten auf die Frage, ob eine Betreuung in dem jeweiligen Fall wirklich die richtige Hilfe ist«, erläutert er. »Welche Aufgaben müssen übernommen werden? Liegt der Bedarf mehr im Bereich der Gesundheit und der Sicherstellung von notwendigen Behandlungen? Oder geht es vor allem um Unterstützung im behördlichen und finanziellen Bereich? Liegt eine Überschuldung vor? Ist womöglich die Wohnung bedroht?«

Zu solchen Fragen formuliert die Betreuungsstelle Antworten und macht Vorschläge, über die eine Betreuungsrichterin zu entscheiden hat. Die bürokratischen Prozesse werden mit der trockenen Juristensprache der Ämter behandelt. Im realen Leben aber macht Katharina Wagner immer wieder traurige, erschütternde oder auch spannende Erfahrungen. Sie rollt mit ihrem Schreibtischstuhl vor einen Schrank voller Akten. »Da habe ich zum Beispiel eine Klientin, die Brände legt.« Katharina Wagner lacht ein amüsiertes Lachen, obwohl sie natürlich genau weiß, wie tragisch die Situation der psychisch kranken Frau ist. »Manchmal kommt es vor, dass ich meine Betreuten zur Polizei begleite. In diesem Fall leidet die Betroffene an einer Angststörung und an Panikattacken. Als Ventil dafür legt sie Brände. Wenn sie in einen solchen Zustand rutscht, zündelt sie immer wieder mit ihrem Feuerzeug. Sie steckt Gardinen an oder verbrennt Klopapierrollen. So kam es in den letzten sechs Monaten zu neunzehn Brandanschlägen. Sie hat das nie so richtig gestanden, bis sie einmal auf frischer Tat ertappt wurde. Jetzt läuft ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft.«

In dem Fall der vermissten, suizidgefährdeten Frau war Katharina Wagner von der psychiatrische Ambulanz als Betreuerin vorgeschlagen worden. Ulrich Fecke ist dankbar für solche Initiativen der zuständigen Stellen. »Es gab da eine Einschätzung, dass Frau Wagner gut mit der Betroffenen arbeiten könnte, dass sie von ihr akzeptiert würde. Eine erfolgreiche Betreuung ist nur möglich, wenn es ein gutes Verhältnis zwischen der Betreuten und der Betreuerin gibt.«

Bis vor wenigen Jahren hat Katharina Wagner für einen kirchlichen Betreuungsverein gearbeitet. Dann entschied sie sich, unabhängig zu arbeiten. Die Selbstständigkeit gefällt ihr, auch wenn die Last der Verantwortung manchmal überfordert. »Eigentlich heißt es, gesetzliche Betreuer sind nicht für den Notfall da. Da gibt es Ärzte, die Polizei, die Feuerwehr, den Krisendienst, den neuropsychiatrischen Dienst. Und trotzdem kommt es jedes Wochenende vor, dass eine Klientin, eine Klinik oder die Polizei oder irgendein Angehöriger bei mir anruft, weil etwas passiert ist.«

Ulrich Fecke arbeitet heute vorwiegend in den Büroräumen seiner Behörde. Früher war aber auch er draußen beschäftigt, als Sozialarbeiter auf der Straße und in den Wohnungen hilfsbedürftiger Familien. Er weiß, wie belastend es sein kann, wenn sich Betroffene mit persönlichen Anliegen an ihre gesetzlichen Betreuer wenden. Heute ist er da abgebrühter und rät zu einer klaren Haltung: »Es geht nicht um das, ich nenne das jetzt mal Kaffeetrinken. Es geht nicht ums Zuhören. Es ist nicht Aufgabe des rechtlichen Betreuers, nach dem Befinden ihrer Klienten zu fragen. Das kann er nicht leisten.«

Eigentlich sieht Katharina Wagner das auch so. Sie möchte sich auf ihre eigentlichen Aufgabenbereiche konzentrieren. »Und trotzdem«, sagt sie. »Es sind doch Menschen, zu denen man eine Verbindung hat, die einem leid tun und wo man mitfühlt, gerade weil die meisten keine Angehörigen haben, kein soziales Umfeld. Selbst wenn sie im Pflegeheim Personal um sie herum haben, brauchen sie menschliche Ansprache und das Gefühl, dass da jemand ist, der auch mal zuhört. Ich habe hier Leute, die rufen mich zweimal am Tag an, einfach nur, um zu reden.«

In solchen Fällen sollte sich eine Betreuerin um die Rahmenbedingungen des Alltags der Betroffenen kümmern. Es gibt Treffpunkte für Menschen mit Behinderungen, Selbsthilfegruppen für Suchtkranke oder Werkstätten, in denen sie mitmachen können. Das deutsche Betreuungsrecht ist sehr bürokratisch. Es geht nicht um subjektive Gefühle, sondern um objektive Ansprüche, die den Menschen zustehen. Durch die gesetzliche Betreuung soll vorrangig sichergestellt werden, dass die Rechte der Betroffenen respektiert werden. Katharina Wagner findet das gut: »In dem Land, in dem ich geboren wurde, gibt es so was nicht. In Kasachstan ist klar, dass sich die Kinder kümmern, die Nachbarn, andere Angehörige oder niemand. Im Zweifelsfall gibt es niemanden, der das für dich macht. Und da bin ich sehr froh und dankbar, in einem Land zu leben, in dem es so was gibt.«

Andererseits ist es in Deutschland manchmal unmöglich, dass Angehörige wichtige Entscheidungen für einen geliebten Menschen treffen dürfen. Zum Beispiel haben viele kein Verständnis, wenn sie als Ehepartner, der seit 40 Jahren verheiratet ist, nicht entscheiden dürfen, was getan werden soll, wenn die Ehefrau in einer Klinik im Koma liegt. Sie fragen, warum eine gesetzliche Betreuung über das Amtsgericht bestellt werden muss, mit all den bürokratischen und juristischen Hürden. »So eine Situation kann verhindert werden, wenn man vorsorgt,« erklärt Ulrich Fecke. »In Deutschland kann jeder eine Vertrauensperson dazu bevollmächtigen, im Notfall seine Sachen zu regeln und Entscheidungen zu treffen. Wenn eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht existieren, muss keine gesetzliche Betreuung bestellt werden.«

Katharina Wagner zieht eine weitere Akte aus ihrem Schrank. Sie lächelt: »Dies hier war ein schöner Fall. Eigentlich ist es das Ziel der gesetzlichen Betreuung, dass die Leute irgendwann keine Betreuung mehr brauchen. Dann bin ich überflüssig. Dann freue ich mich. Da hatte ich einen jungen Herrn, der an einer Nervenerkrankung litt. Er verbrachte Jahre seines jungen Lebens in einem Pflegeheim. Dort hat er sich nach und nach wieder aufgerappelt und seine neurologischen Fähigkeiten zurückerlangt. Irgendwann passte er einfach nicht mehr in das Pflegeheim. Dann haben wir zusammen eine Wohnung für ihn gefunden. Heute kann er sich selber versorgen. Jetzt hat ein Gutachter entschieden, dass er keine Betreuung mehr braucht. Das ist dann ein Erfolgserlebnis. So was hat man aber selten. Die meisten sind krank und das wird nicht besser.«

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