Reste eines Ausrufs

Die schöne, vorsichtige Lyrik von Farhad Showghi: »Anlegestellen für Helligkeiten«

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine typische Anlegestelle für Helligkeit im Schatten: Parkplatz in Kansas City, nach einem Baseballspiel
Eine typische Anlegestelle für Helligkeit im Schatten: Parkplatz in Kansas City, nach einem Baseballspiel

Erinnerung ist kein neutraler Vorgang, ist nicht vergleichbar mit dem Aufrufen von Speicherinhalten. Oder wenn doch, dann befindet sich dieser Speicher in einem schlecht beleuchteten Keller des Ichs. Unheimlich ist es dort, weil die Heimat, die Menschen, Orte und Ereignisse, denen man entsprang oder entkam, einem nicht gehören. Man wird all dem auch retrospektiv nicht einfach habhaft, muss sie vielmehr aus der Dunkelheit herauslocken, um sich selbst auf etwas gründen zu können, das einer Wahrheit am nächsten kommt. »Es tut gut, einen Schatten zu werfen, / einen länglichen Fleck, / von dem ich komme, / um einen Ton / in mich hineinzubringen.« Erinnerung als poetisches Verfahren, diesem Projekt widmet sich Farhad Showghi in seinem neuen Lyrikband »Anlegestellen für Helligkeiten«.

Der Peter-Huchel-Preisträger wurde 1961 als Sohn einer Deutschen und eines Iraners in Prag geboren, ging in jungen Jahren mit seinem Vater in den Iran, um Ende der Siebzigerjahre in Deutschland Medizin zu studieren. Seit 1989 lebt er in Hamburg, wo er als Psychiater arbeitet. Die Stationen seiner frühen Biographie bilden den Zielpunkt der hier versammelten Texte. »Ich schlafe ins Sprechen«, heißt es in »Fehler im Traum«, dem Titel gleich mehrerer Gedichte, die Meditationen ähneln oder Versuchen, das Vergangene erneut zu erleben. Das Prager Schloss und Landschaften im ländlichen Iran tauchen auf, Eindrücke aus Teheran, eine Messe für landwirtschaftliche Geräte, Verwandte, die Eltern.

Als schlafwandlerisch und zugleich hochkonzentriert darf man den Modus verstehen, in dem das Ich dieser Texte durch seine Vergangenheit gleitet, stets bereit, einem Impuls nachzugehen: »Wenn niemand fährt, ist die Straße der Zeit voraus. / Obgleich die Biegung an ihrem Ende / die beste Gelegenheit bietet / Jetzt! zu rufen«. Showghi verfällt auf diesem Pfad nie in Nostalgie oder ins Privatistische. Er verfolgt ein erkenntnistheoretisches Projekt. »Ich lasse Vorsicht walten, beginne mit den Fragen: / Können meine Hände über ihr Gesehensein hinaus Wirklichkeit beanspruchen?«, heißt es an einer Stelle. Und man ist versucht, scheu zu antworten, dass diese Wirklichkeit in den Augen des Betrachters liegen könnte. Man müsste nur richtig sehen können, um beleben zu können, und richtig gesehen werden, um selbst lebendig zu sein. »Ich laufe ein Stück mit Familie. / Ich betrachte mein Gesicht als glatte Fläche. / Auf Zuruf wird es mit Augenhöhlen versehen und geliebt.«

Auch ein ethisches Potenzial scheint in diesen Gedichten auf. Der Versuch, das Vergangene wiederzusehen, geht einher mit dem Ringen um eine Perspektive, die dem Wahrgenommenen gerecht wird, von der aus auf eine Weise über es gesprochen werden kann, die ihm entspricht. Auch gilt es, ein Bild nicht als Oberfläche oder Abbild von etwas zu begreifen, sondern als dessen Kern. Mit einer gewissen Strenge betrachtet Showghis Ich das Personal seiner Tagträume, prüft, ob es mit gleicher Lust und gleichem Ernst wahrnimmt. »Haben wir Umgang mit Sachen und freuen wir uns? / In unseren Lungen leichter Aufprall von Dingen, / die soeben wie Zapfen an Ästen hingen, nah am Geräusch: / Reste eines Ausrufs, in kleinen Sprüngen.« Es ist ein neugieriger, ein zärtlich prüfender Blick, der hier auf den Dingen ruht und sie einlädt zurückzublicken. Subjekt und Objekt tauschen auch mal versuchshalber die Seiten: »Soll doch der Boden den Aufprall der Füße dämpfen.«

Welche Rolle aber spielt die Sprache selbst hier? Sie verlässt ihre Isolation, ihre Trennung von dem, was sie nur meint, ohne es sein zu können. Da recken Buchstaben zaghaft ihre Striche ins Freie, da geht ein Alphabet auf Wanderschaft durch das, was es beschreibt. »Fälschlich hat ein Büro zu blühen begonnen, / die Sprache scheint / nach Dünger zu riechen, / Kaltluft mischt sich / in die Entfernung vom Wort, / und Gärtner bringen / das Herumhauen auf Schreib- / maschinen in ihre Gewalt.« Die Zeichen wärmen bei Showghi höchstselbst die Zunge, von dem zu sprechen, was noch unerkannt herumliegt in der starrkalten Realität.

Farhad Showghi: Anlegestellen für Helligkeiten. Kookbooks, 96 S., geb., 20 €

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