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  • »Judensau« von Wittenberg

Obszöne Mahnung an der Kirchenfassade

Bundesgerichtshof verhandelte über Entfernung der »Judensau« von Wittenbergs Stadtkirche

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit 700 Jahren prangt die "Judensau" an der Fassade der Stadtkirche Wittenberg. Jetzt entscheidet ein Bundesgericht über ihre Entfernung.
Seit 700 Jahren prangt die "Judensau" an der Fassade der Stadtkirche Wittenberg. Jetzt entscheidet ein Bundesgericht über ihre Entfernung.

Die Stadtkirche in Wittenberg gilt als Mutterkirche der Reformation. Dort wurde die Messe erstmals in deutscher Sprache gefeiert; Martin Luther predigte von der ihrer Kanzel. Das Gotteshaus sei zudem eine »Schatzkammer der Kunst«, schreibt die dort ansässige Gemeinde. Zu ihren größten Schätzen gehört der »Reformationsaltar« von Lucas Cranach dem Älteren. Es gibt aber auch äußerst problematische künstlerische Darstellungen an der Kirche. Ein 700 Jahre altes Sandsteinrelief an der Fassade führte gar dazu, dass sich die Gemeinde vor Gericht verantworten muss. An diesem Montag befasste sich der Bundesgerichtshof mit dem Fall. Ein Urteil wird erst später verkündet.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Gestritten wird über die »Judensau«, eine antijüdische Schmähplastik, die vermutlich 1290 an der Kirche angebracht wurde. Sie zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden zu identifizieren sind. Ein Rabbiner hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. 1570 wurde das Machwerk durch einen goldenen Schriftzug ergänzt. Er zitiert eine Beschreibung der »Judensau« durch Martin Luther. Der Reformator, der üble judenfeindliche Pamphlete verfasste, stellte eine Verbindung zwischen jüdischem Schriftgut und dem im jüdischen Glauben als unrein geltenden Schwein her und machte damit den Glauben insgesamt lächerlich.

Das Gericht muss sich mit der Plastik befassen, weil Michael Düllmann, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin, von der Kirchgemeinde der Stadtkirche deren Entfernung fordert. Sollte dies aus Gründen des Denkmalschutzes nicht möglich sein, solle zumindest festgestellt werden, dass das Relief den Tatbestand der Beleidigung erfüllt. In zwei unteren Instanzen ist Düllmann freilich mit seinem Ansinnen gescheitert. Das Landgericht Dessau-Roßlau wies im Mai 2019 die Klage ab, das Oberlandesgericht (OLG) in Naumburg im Februar 2020 seine Berufung.

Dabei stellten die Richter fest, dass das Kunstwerk durchaus eine Beleidigung von Juden darstellen würde – bei »isolierter Betrachtung«. Allerdings lenken die Richter den Blick auf eine Bronzeplastik, die 1988 im Boden vor der Kirche verlegt wurde. Sie zeigt vier Platten, aus deren kreuzförmigen Ritzen etwas emporquillt. Im umlaufenden Text wird der Bogen von der mittelalterlichen Verhöhnung der Juden bis zum Holocaust und dem Mord an sechs Millionen Juden im 20. Jahrhundert geschlagen. Später wurde das von Wieland Schmiedel entworfene Kunstwerk durch eine Zeder als Zeichen der Versöhnung ergänzt; auch eine erklärende Tafel gibt es. Nach Ansicht der Richter gehört die »Judensau« damit nun zu einem »Ensemble von Exponaten« und solle erhalten werden als »Teil einer Gedenk- und Erinnerungskultur«.

Diese Absicht betonte auch die beklagte Gemeinde wenige Wochen vor der Verhandlung am BGH. Die »Judensau« sei ein »schwieriges Erbe, aber ebenso ein Dokument der Zeitgeschichte«, heißt es in einer Erklärung vom März. Sie zeige die mittelalterliche Judenfeindlichkeit, zu der sich auch Martin Luther »hinreißen ließ«. Die Schmähplastik löse »Beschämung und Widerstand« aus, auf die aber nach Ansicht der Gemeinde nicht mit ihrer Entfernung reagiert werden solle. Vielmehr provoziere ihre Präsenz »das Erinnern und Gedenken immer wieder neu«. Hingewiesen wird auf die Tafel mit dem einordnenden Text, auf verschiedene Publikationen oder den Umstand, dass alle offiziellen Stadt- und Kirchenführungen sich mit dem Thema befassen und Gedenkveranstaltungen am 9. November und 27. Januar zu Füßen des beschämenden Kunstwerks abgehalten werden.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ringt damit, wie sie mit der Wittenberger sowie mit Dutzenden weiteren »Judensäuen« umgehen soll; vergleichbare Abbildungen gibt es etwa an den Domkirchen in Brandenburg, Erfurt und Magdeburg. Zuletzt veranstaltete die Evangelische Akademie im November eine Tagung zum Thema. Die Plastik in Wittenberg stelle »fraglos eine Schmähung dar und kann so nicht bleiben«, sagte Christian Staffa, Beauftragter der EKD für den Kampf gegen Antisemitismus. In dem Relief habe sich die lange Geschichte der christlichen Judenfeindschaft »auf obszöne Weise verdichtet«. Gleichzeitig lasse sich diese aber nicht ungeschehen machen, »indem man ihre Zeugnisse abschlägt«, sagte Staffa. Auch ein Rechtsstreit könne die Aufgabe der Befassung mit dieser Geschichte »nicht erledigen«.

Die Wittenberger Kirchgemeinde arbeitet an einer »Weiterentwicklung dieser Stätte der Mahnung«. Dazu sei ein Beirat gegründet worden. Staffa betont, die historischen Kunstwerke müssten zum »Anlass zur Umkehr von aller Judenfeindschaft genommen werden«. Das gelte indes nicht nur für die »Judensau«, sondern auch für Cranachs Altarbild. Dort wird, mit gelbem Gewand und böser Physiognomie, eine einzige Figur ausdrücklich als Jude kenntlich gemacht: Judas, der Verräter.

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