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  • Norwegischer Film »Der schlimmste Mensch der Welt«

Bambi auf dem Eis

Der norwegische Regisseur Joachim Trier zeigt in »Der schlimmste Mensch der Welt«, wie die sogenannten Millenials ticken

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 5 Min.
Renate Reinswe gewann für die Rolle von Julie in Cannes 2021 den Preis für die beste Darstellerin.
Renate Reinswe gewann für die Rolle von Julie in Cannes 2021 den Preis für die beste Darstellerin.

Sollte man heutzutage noch Kinder bekommen? Angesichts der drohenden Klimakatastrophe? Warum weiß man als Frau eigentlich alles über männliche Sexualität, Männer jedoch kaum etwas über Menstruation? Kannst du Feministin sein und es gleichzeitig genießen, in den Mund gefickt zu werden? Warum folgt mein derzeitiger Freund seiner Ex eigentlich immer noch auf Instagram? Was soll frau bloß werden? Ärztin, Psychologin oder doch lieber Fotografin?

Das sind Fragen, mit denen sich Julie, der titelgebende »schlimmste Mensch der Welt« aus Joachim Triers tragikomischen Coming-of-Age-Film für Erwachsene herumschlägt. Über mehrere Jahre begleitet der in Dänemark geborene, norwegische Filmemacher die Entwicklung dieser wankelmütigen, jungen Frau, die sich mit noch nicht einmal dreißig Jahren bereits als Versagerin fühlt. Das Drehbuch schrieb er wieder gemeinsam mit seinem Freund aus Teenager-Zeiten, Eskil Vogt.

Wer schon immer mal wissen wollte, wie die sogenannten Millenials ticken beziehungsweise vielleicht selbst eine*r ist, kommt an diesem Film, der das Zeug zum Klassiker hat, nicht vorbei.

Triers fünfter, auf 35 mm gedrehter Streifen, der für den Auslands-Oscar 2022 nominiert war, hat die Vielschichtigkeit eines Romans. So ist es nur folgerichtig, dass er in einen Prolog, zwölf Kapitel und einen Epilog unterteilt ist.

Zu Beginn des Films studiert Julie Medizin. Renate Reinswe spielt diese gleichzeitig vor Leichtigkeit und Tiefgang berstende Frau und gewann in ihrer ersten Hauptrolle zu Recht in Cannes 2021 den Preis für die beste Darstellerin. Die Tochter aus bürgerlichen Verhältnissen, die sich um ihre Finanzen offensichtlich nicht besonders viel Sorgen machen muss, »beobachtet die Mitstudierenden, hauptsächlich Mädchen am Rande einer Essstörung« – wie eine durchgängig äußerst geschickt eingesetzte, weibliche Off-Stimme erzählt.

»Wann sollte das Leben beginnen?«, fragt Julie sich und beginnt fürs Erste eine Affäre mit ihrem Professor. Kurz darauf sattelt sie zur Psychologie um, ehe sie feststellt, dass ihre eigentliche Leidenschaft der Fotografie gehört. Dann lernt sie in einer Bar den 44-jährigen Aksel kennen. Dieser wird wieder von Anders Danielsen Lie verkörpert, der auch schon in den anderen beiden Teilen der sogenannten Oslo-Trilogie von Joachim Trier eine Hauptrolle spielt. Sowohl in »Auf Anfang« (2006) als auch in »Oslo, 31. August« (2011) verkörpert er einen an der Multioptionalität verzweifelnden Sprössling des Osloer Bürgertums. In »Der schlimmste Mensch der Welt« gibt der mittlerweile über 40-jährige Danielsen Lie – in seiner Rolle als etablierter Comiczeichner – den Staffelstab an Reinswe weiter. So will sein Aksel sich eigentlich nicht auf eine ernsthafte Liebesbeziehung mit Julie einlassen, spürt er doch, dass sie noch auf der Suche nach sich selbst ist. In dem Moment, in dem er versucht, ihr dies zu erklären, verliebt sie sich natürlich in ihn.

Doch trotz aller Liebe ist der Generationenunterschied zu groß. Dies wird besonders deutlich in Aksels Rede über das Verschwinden physischer Kulturgüter, sein Erinnern an eine Zeit, »in der Kultur über Gegenstände weitergegeben wurde« – doch die Welt, die er kennt, ist verschwunden. Dies wird er auch später schmerzhaft merken, als der einst für seine zum Teil sexistischen Comics gefeierte Zeichner sich nun in einem Radiointerview für die Misogynie in seiner Kunst rechtfertigen muss – und dabei die Contenance verliert.

So kommt es, wie es kommen muss, während eines Wochenendes mit Aksel und seinen mittlerweile gesettelten Verwandten, die bereits nervtötende Kinder haben und Julie mit Fragen nach ihren beruflichen Plänen auf den Geist gehen, bekommt ihre Liebesbeziehung erste Risse.

Kurz darauf lernt Julie auf einer Party, in die sie sich einschleicht, den etwa gleichaltrigen Eivind (Herbert Nordrum) kennen. Endlich jemand, der sie nicht fragt, wer sie ist und was sie macht. Schon bald flüstern sie sich kichernd ihre dunkelsten Geheimnisse ins Ohr und loten die Möglichkeiten aus, einander kennenzulernen, ohne ihren jeweiligen Partnern untreu zu werden.

Doch das Verlangen ist groß, und in einer der romantischsten Szenen der jüngeren Filmgeschichte betätigt Julie den Lichtschalter in der Küche ihrer gemeinsamen Wohnung mit Aksel – und die Zeit steht still. So kann sie ungestört und ohne schlechtes Gewissen in einer Art Paralleluniversum zu ihrer neuen Liebe eilen, vorbei an erstarrten Personen, während der Wind immer noch sanft durch ihr Haar streift. Eine Welt wie in einem mitreißendem Musical. Aufregend fotografiert von Kameramann Kasper Tuxen, der auch schon mit Gus Van Sant und Mike Mills zusammengearbeitet hat.

Überhaupt unterstreicht der Soundtrack immer passend die Gefühlswelt seiner Protagonisten. Ola Fløttum ist – neben Stücken von Billie Holliday oder Todd Rundgren – für die niemals ins Kitschige driftende, aber dennoch emotionale Musik zuständig.

Zudem spielt Trier virtuos mit filmischen Ausdrucksmitteln, von sehr schnell aneinander geschnittenen Passagen über raffinierte eingesetzte Rückblenden und witzige Animationssequenzen bis hin zu einem fantastisch in Szene gesetzten, psychedelischen Trip, während dem Julie mit ihrem neuen Freund Magic Mushrooms ausprobiert und im Rausch endlich einmal ihren Vater angreift.

Die häufig abwesenden Väter sind schließlich auch ein Problem der Millenials. Julies Papa ist ein besonders gräßliches Exemplar, der überhaupt kein Interesse daran hat, Anteil an ihrem Leben zu nehmen. Schließlich hat er schon genug damit zu tun, sich um seine neue Familie zu kümmern. Aksel behauptet einmal zu Recht, Julie trage mit ihm die Konfrontation aus, die sie sich nie getraut hat mit ihrem Vater zu haben. Worauf sich Julie natürlich furchtbar aufregt, da er sie immer zu analysieren versucht.

Als Aksel später an Bauspeicheldrüsenkrebs erkrankt, gesteht er ihr, dass er bereut, es nicht geschafft zu haben, ihr zu zeigen, wie wunderbar sie ist. Und auch den Zuschauer*innen fällt es schwer, sich von der bezaubernden Julie, die sich einmal selbst als »Bambi auf dem Eis« bezeichnet, zu verabschieden.

»Der schlimmste Mensch der Welt«: Norwegen 2021; Regie: Joachim Trier, Buch: Eskil Vogt, Joachim Trier. Mit: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, Hans Olav Brenner; 121 Minuten, jetzt im Kino.

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