Linke Reformprojekte in wirtschaftlich turbulenten Zeiten

Die hohe Inflation in Amerika macht auch Chile und Kolumbien zu schaffen

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Zeitspanne verdeutlicht die Dimension: Chile hat den höchsten Leitzinssatz seit 2001. Am 13. Juli trat die autonome chilenische Zentralbank kräftig auf die Bremse. Der Zinssatz wurde um 75 Basispunkte erhöht, exakt um die gleiche Marge, um die die US-amerikanische Notenbank Fed kurz zuvor ihren Leitzinssatz erhöht hatte. 9,75 Prozent ist die neue Marke, zu der sich die Geschäftsbanken bei der Zentralbank mit frischer Liquidität versorgen können, die sie dann ihrerseits mit einem Zinsaufschlag an die Privatwirtschaft weiterreichen, so es denn Nachfrage nach Krediten in unsicheren Zeiten gibt.

Ähnlich wie beim globalen Hunger ist auch bei der globalen Inflation der Ukraine-Krieg nur ein weiterer Treiber, der die Folgen der Corona-Pandemie unheilvoll ergänzt. Der hohen Inflation steuert beispielsweise die chilenische Zentralbank schon seit Juli 2021 gegen, die Erhöhung am 13. Juli war die neunte in Folge. Die Unsicherheit durch die Corona-Pandemie und unterbrochene Lieferketten sorgten für Angebotsknappheiten bei vielen Produkten, die deswegen teurer wurden.

In Chile erreichte die Inflation im Juni 12,5 Prozent. Es ist der höchste Stand seit 1994 im einst als neoliberales Musterland apostrophierten Andenstaat. Die neoliberale Verfassung aus der Pinochet-Diktatur, die 1980 verabschiedet wurde, steht am 4. September zur Disposition. Dann wird per Plebiszit am Tag des Wahlsieges von Salvador Allende 1970 über eine progressive Verfassung abgestimmt. Der Ausgang ist ungewiss.

Chile war makroökonomisch lange das stabilste Land Südamerikas, hohe Inflationsraten wie beim Nachbarn Argentinien waren unbekannt. Auch jetzt liegt dort die Inflationsrate mit 60 Prozent weit höher als in Chile mit 12,5 Prozent. Doch für viele Chilenen sind Inflationserfahrungen Neuland. Nach drei Jahrzehnten Niedriginflation geht seit Mitte 2021 das Gespenst der Geldentwertung um. Zweistellige Inflationsraten wie in den vergangenen zwölf Monaten hat das Land seit 28 Jahren nicht mehr erlebt. Die Zinserhöhungen der Zentralbank sind bisher weitgehend verpufft. Für 2023 schwebt sogar das Damoklesschwert einer wirtschaftlichen Rezession über Chile. Für die im März 2022 angetretene linke Reformregierung von Gabriel Boric eine schwere Hypothek für die angestrebte Politik des sozialen Ausgleichs.

Die steigenden Lebenshaltungskosten »und ihre negativen Auswirkungen auf die Familien spiegeln sich in der öffentlichen Besorgnis über dieses Phänomen wider«, beschreibt der jüngste Bericht der Zentralbank die Stimmungslage. Lebensmittel und alkoholfreie Getränke wurden in Chile im vergangenen Jahr um 17,1 Prozent teurer. Das Problem hat der am 6. März angetretene linksreformerische Präsident Gabriel Boric zwar im Blick, aber die Spendierhosen zieht er deswegen noch nicht an. Ein generelles Familiennotstandsgeld, das Familien während des derzeitigen Winters helfen würde, schloss er aus. »Der Vorschlag treibt die Inflation weiter in die Höhe«, meinte Boric. Stattdessen kündigte die Regierung eine Prämie von rund 120 Dollar für die Einkommensschwächsten des Landes an, um ihnen bei der Bewältigung der Preissteigerungen zu helfen.

In Chile ist eine linke Regierung seit gut vier Monaten im Amt, in Kolumbien tritt am 7. August erstmals überhaupt eine linke Regierung unter dem Duo Gustavo Petro und Francia Márquez an. Sie übernimmt politisch und ökonomisch ein schweres Erbe. 20 Millionen Kolumbianer werden offiziell als arm geführt. »Ich bin besorgt über den Hunger, der bereits 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung erreicht hat. Und die Armut liegt trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs und des rückläufigen Virus bei 40 Prozent. Außerdem ist zu spüren, dass sich eine weltweite wirtschaftliche Depression anbahnt. Die Konjunktur steht nicht zu unseren Gunsten. Hier sehe ich die Notwendigkeit, die ersten Sofortmaßnahmen zu ergreifen«, sagte Petro in einem Interview mit »El País« kurz nach seinem Wahlsieg am 19. Juni 2022.

Wie Chile hat auch Kolumbien derzeit mit hoher Inflation zu kämpfen. Ausgerechnet bei einem Grundnahrungsmittel wie Maniok ist der Preis im vergangenen Jahr am stärksten gestiegen. Laut dem vom Nationalen Amt für Statistik veröffentlichten Verbraucherpreisindex für den Monat Mai wurde Maniok um 76 Prozent im Vergleich zum selben Monat des Jahres 2021 teurer. Ein Kilo kostet inzwischen oft über zwei Dollar. Für Millionen von Menschen bedeutet das eine schlechte Nachricht, denn viele der typischen kolumbianischen Gerichte enthalten Maniok als Hauptzutat.

Auch Kolumbiens Zentralbank reagierte auf die für das Land hohe Inflation von über 9 Prozent mit Zinserhöhungen, und zwar mit der größten Zinserhöhung in seiner Geschichte: Der Leitzinssatz wurde von 6 auf 7,5 Prozent erhöht.

Dass Chile und Kolumbien mit Argentinien die drei Länder sind, deren Währungen im vergangenen Jahr in Südamerika am meisten gegenüber dem Dollar nachgegeben haben, macht die Sache nicht einfacher. Im Gegenteil: Die Abwertungen führen zu einer Verteuerung der Importe und damit zu einer importierten Inflation. Ein schneller Ausweg aus dieser Gemengelage ist nicht in Sicht. Für die linken Regierungen eine schwere Herausforderung mehr.

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