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Ein neuer Positivismusstreit?

Rechte wie Liberale berufen sich auf wissen­schaftliche Fakten. Was ideologiefrei ­daherkommt, bräuchte umso mehr die Kritik. Vorbilder dafür gibt es

  • Alex Struwe
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Philosoph Theodor W. Adorno beharrte auf einer geisteswissenschaftlichen Kontextualisierung von Fakten, nämlich Ideologiekritik.
Der Philosoph Theodor W. Adorno beharrte auf einer geisteswissenschaftlichen Kontextualisierung von Fakten, nämlich Ideologiekritik.

Im Eklat an der Berliner Humboldt-Universität zeigte sich ein Paradebeispiel für den gescheiterten Umgang mit rechten Angriffen auf liberale Institutionen. Der Vortrag der Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gäbe, wurde erst abgesagt und auf Druck der Cancel Culture-Vorwürfe schließlich mit prominenter Diskussionsrunde nachgeholt. Damit ist die HU der rechten Diskursstrategie auf den Leim gegangen: Die liberale Öffentlichkeit wird in die Defensive gebracht, enorme Aufmerksamkeit für rechte talking points erzeugt, die zugleich zu legitimen Positionen im Meinungspluralismus verklärt werden.

Strenggenommen gab es aber kaum eine andere Möglichkeit der Reaktion, denn um etwa transphobe Agitation als falsch zurückzuweisen, bräuchte es einen Begriff von Wahrheit. Ohne diesen blieb entsprechend nur die Empörung übrig, dass sich Vollbrecht keiner Diskussion ihrer Thesen stellen wollte. Sie hatte in ihrem Vortrag darauf bestanden, dass es ihr ausschließlich um naturwissenschaftliches Grundlagenwissen ginge. Ein sachlich richtiger Vortrag müsse schließlich nicht durch Geisteswissenschaftler*innen kontextualisiert werden. All das wirft die Frage auf: Stehen wissenschaftliche Objektivität und Wahrheit jetzt rechts?

Trust the Science?

In gewisser Weise besteht die rechte Strategie darin, eine liberale Öffentlichkeit mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Denn das Argument, dass wissenschaftliche Fakten keiner »Kontextualisierung« bedürften, kommt auch in liberalen Weltbildern vor: bei Faktenchecks gegen Verschwörungsglauben, den Rufen nach »trust the science«, wenn die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Klimawandel oder Pandemie infrage gestellt werden, oder wenn der YouTuber Rezo die CDU mit einem ganzen Arsenal an Daten und Fakten »vernichten« will. Wie unterscheidet man sinnvoll, wann aus wissenschaftlichen Fakten eindeutige Handlungsanweisungen zu folgern sind?

Es gehört zum Grundbestand der Moderne, dass aus einem natürlichen Sein kein Sollen folgt; genau diese Emanzipation von Naturnotwendigkeiten hat die Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht. Mehr noch, Aufklärung ist die Beherrschung der Natur – im guten wie im schlechten. Es ist daher fast so etwas wie eine Faustregel, dass in der Moderne dort Ideologie drin ist, wo Natur draufsteht. Aber damit fangen die Probleme ja erst an.

Es reicht nicht aus, Objektivitätsansprüche zu relativieren und menschenfeindlichen Ansichten immer wieder nur vorzuhalten, dass es eben auch andere Sichtweisen dazu gäbe. Hier ist, wie es Max Horkheimer in seiner »Kritik der instrumentellen Vernunft« andeutete, die »Freiheit von der Herrschaft dogmatischer Autorität« zu der bloßen »Haltung der Neutralität gegenüber einem jeden geistigen Inhalt« geworden. Kritik, das große Erbe der Aufklärung, ist nur noch eine formale Geste. Rechte Kräfte konnten diesen Nimbus vereinnahmen, wenn sie als Verteidiger*innen der Wissenschaftsfreiheit, gegen Cancel Culture, im Namen der Errungenschaften des Feminismus gegen Transrechte oder auch als Sozialkritiker*innen gegen Pandemiemaßnahmen auftreten. In dieser vertrackten Lage braucht es überhaupt erst einmal ein Bewusstsein für das Dilemma, das hier vorliegt.

Der Streit um Objektivität

Lange Zeit übernahm die Philosophie die Aufgabe, auf das Verhältnis von Wahrheit und positiver Wissenschaft zu reflektieren. Das Problem ist so alt wie die moderne Gesellschaft selbst: Als das bürgerliche Bewusstsein aufkam, dass Geschichte von Menschen gemacht wird, mussten Wissen und Erkenntnis dazu in ein Verhältnis gesetzt werden. Aus dem Dilemma von objektiver Erkenntnis und historischer Situiertheit ergab sich eine ganze Reihe sogenannter Methodenstreits, die sich von wissenschaftlichen Großdebatten oder sogenannten »turns« noch einmal unterscheiden. Es ging dabei weniger um Auseinandersetzungen zu wissenschaftlichen Moden wie Konstruktivismus, Poststrukturalismus oder zur Postmoderne, als um die grundlegendere Frage, wie denn eigentlich Erkenntnis in einer Gesellschaft möglich ist, der bewusst ist, dass sie ihre Objektivität selbst erzeugt.

Eine maßgebliche Linie solcher Auseinandersetzung begann mit der Marxschen Kritik an der klassischen Ökonomie. Marx’ kritische Intervention bestand darin, der positiven Wissenschaft von der Gesellschaft vorzuhalten, dass sie ihren eigenen Anteil an diesen Verhältnissen nicht sieht. Statt nur festzustellen, dass das Denken und das Sein auseinanderfielen und es deswegen eine problematische Beziehung zwischen Realität und wissenschaftlicher Erkenntnis gebe, hatte Marx den Anspruch, dieses Auseinanderfallen selbst als ein gesellschaftliches Produkt zu erklären.

Darauf folgte der sogenannte Werturteilsstreit der deutschen Soziologie, den Max Weber unter anderem mit Werner Sombart in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg austrug. Weber war kein Marxist, aber er sah sich als derjenige, der auf das Marxsche Problem eine bessere Antwort findet, nachdem der Marxismus wissenschaftliche Objektivität für sich beansprucht hatte. Webers Lösung lief im Grunde darauf hinaus, Objektivität zu relativieren. Der Forderung nach feststehenden Wahrheiten hielt er entgegen: »Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen.«

Die Ansicht, dass die sich ständig wandelnde Wirklichkeit nicht mit überhistorischer oder ewiger Wahrheit begriffen werden kann, ist aber keinesfalls davor gefeit, selbst Ideologie zu werden. Dies war Gegenstand des Positivismusstreits in der deutschen Soziologie, den vor allem Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren gegen Karl Popper und die Tradition des kritischen Rationalismus führte. 1961 eröffneten Adorno und Popper die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit jeweils einem Referat zur »Logik der Sozialwissenschaften«. Adorno kritisierte darin unter anderem, dass wissenschaftliche Vernunft nur noch die Wahrheit kennt, dass es keine Wahrheit mehr gäbe. Er verteidigte dagegen einen dialektischen Zugang.

Gemeint war damit für Adorno, weder für irgendeine mystische Wahrheit, die sich hinter der zu beobachtenden Realität verbergen müsse, noch für die reine Beschreibung des Bestehenden Partei zu ergreifen. Vielmehr wollte er den gesellschaftlichen Zusammenhang von beidem erkennen. »Zur Objektivität der Wissenschaft hilft allein Einsicht in die ihr innewohnenden gesellschaftlichen Vermittlungen«, schrieb Adorno in seiner »Einleitung zum Positivismusstreit«. Vor dem Hintergrund dieses Anspruchs kam er zu einem vernichtenden Urteil: Der Positivismus verinnerliche »die Zwänge zur geistigen Haltung, welche die total vergesellschaftete Gesellschaft auf das Denken ausübt« und sei damit »die begriffslose Erscheinung der negativen Gesellschaft in der Gesellschaftswissenschaft« – also Ideologie.

Selbstbesinnung der Vernunft

Den Positivismus in der Weise als Ideologie zu kritisieren, ist nicht einfach Besserwisserei. Zeitlebens warf man Adorno vor, dass er für solche drastischen Urteile eigentlich doch heimlich über die Wahrheit verfügen müsse. Das geht aber am Punkt der Erkenntniskritik vorbei. Adorno zielte auf das ab, was in den positiven Wissenschaften ebenso wie in der transzendentalen Philosophie fehlte: die Selbstreflexion. Denn nur eine solche Selbstbesinnung der Vernunft erlaube Objektivität, und zwar indem sie am Denken selbst nachvollziehe, was die Gesellschaft der Tendenz nach beherrsche.

Die Einsichten aus diesem Positivismusstreit lassen sich nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragen. Es zeigt sich an ihnen aber ein Unterschied zur heutigen Debatte: Diese dreht sich scheinbar im Kreis, ohne eine Möglichkeit anzudeuten, über den immer gleichen Schlagabtausch hinauszukommen. Der rein instrumentelle Bezug auf Natur oder Wissenschaft von rechts ebenso wie das abstrakte Beharren auf der formalen Freiheit aller Gedanken der liberalen Öffentlichkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Dieses Verhältnis zu reflektieren, und zwar als ein gesellschaftliches, das wäre die Aufgabe einer Wissenschaftskritik.

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