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»Ich bin nur noch die Schaufensterpuppe«

Simon Geschke spricht über seinen dramatisch verlorenen Kampf um das Bergtrikot der Tour de France

  • Tom Mustroph, Hautacam
  • Lesedauer: 6 Min.
Unerwartet und lange im Fokus der Tour: Simon Geschke aus Berlin
Unerwartet und lange im Fokus der Tour: Simon Geschke aus Berlin

Auf der 18. Etappe der Tour de France ist es Ihnen am Donnerstag nicht mehr gelungen, das Bergtrikot zu verteidigen. Wie traurig sind Sie, dass Sie es nun doch nicht gewinnen werden, obwohl Sie eine Woche lang der Führende in dieser Wertung waren?

Interview

Simon Geschke ist in Berlin aufgewachsen, lebt aber seit vielen Jahren in Freiburg. Der heute 36-Jährige fährt seit 2021 für das französische Cofidis-Team und erlebt dort sportlich seinen zweiten Frühling. Die größten Erfolge des Bergspezialisten sind ein Etappensieg 2015 und neun Tage im Bergtrikot der Tour de France in diesem Jahr. Letzteres hatte vor ihm noch kein deutscher Radsportler geschafft.

Es wäre natürlich schön gewesen. Es ist superschade. Aber das Bergtrikot ist für den besten Bergfahrer der Tour gedacht. Und der hat es jetzt auch.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie es nicht schaffen werden? Und wie hart war es dann, überhaupt noch bis ins Ziel zu fahren?

Ins Ziel sind wir relativ stressfrei gekommen. Wir hatten noch sieben Minuten bis zum maximalen Zeitlimit. Aber meine eigentliche Ziellinie war schon am ersten Berg, dem Col d’Aubisque. Dort hätte ich punkten müssen, was mir nicht gelungen ist.

Sie versuchten lange, in die Ausreißergruppe zu kommen. Ohne Erfolg.

Ja, es war sehr stressig, nach 5 Kilometern war bereits Druck im Feld. Es war nervös, jeder dachte: Es geht eine große Gruppe, da muss ich drin sein. Man brauchte viel Energie dafür, und auch ich wollte natürlich unbedingt rein. Die Gruppe, die sich dann absetzen konnte, habe ich leider verpasst. Mit einem Teamkollegen, der mir half, konnten wir lange Zeit den Abstand zur Gruppe sehr knapp halten. Hätte ich an dem Tag noch gute Beine gehabt, hätte ich am Col d’Aubisque noch hinspringen können. Aber es war einfach nicht mehr so viel im Tank, wie dafür nötig gewesen wäre. Und am Aubisque war es dann zu Ende. Da bin ich komplett explodiert. Ich habe es da mit der Brechstange probiert und wahrscheinlich auch die ersten 60 Kilometer im Flachen zu viel gemacht, weil ich unbedingt in die Gruppe wollte. Und das kostet einen so leichten Fahrer, wie ich es bin, ziemlich viel Kraft. Es war eben auch schon die 18. Etappe. Wir hatten schon fast drei Wochen Tour in den Beinen.

Haben Sie dann unterwegs verfolgt, wie sich das Rennen entwickelt, wie viele Punkte Jonas Vingegaard sammelt, und ob er Sie tatsächlich noch überholt?

Nein, nicht wirklich. Ich wusste, dass ich am Aubisque Punkte sammeln musste. Als das nicht klappte, war es fast unmöglich, dass ich das Trikot behalte. Wir haben dann auch erwartet, dass die Klassementfahrer den Etappensieg unter sich ausmachen und nicht die Fahrer in der Fluchtgruppe. Da konnte ich nicht mehr viel machen.

Keine Hoffnung, dass der Rennverlauf noch einmal zu Ihren Gunsten entscheiden würde wie schon einmal in den Alpen?

Das war einfach wenig realistisch. Nun bin ich Zweiter, was so schlecht nicht ist. Und noch mal: Das Bergtrikot ist für den besten Bergfahrer der Tour, und es trägt mit Vingegaard schon der Richtige. Das heißt natürlich, er führt die Wertung an, tragen muss ich es ja weiter, weil er noch das Gelbe Trikot des Gesamtführenden der Tour überstreift. Das hat einen höheren Stellenwert.

Freuen Sie sich darauf, das Trikot dann aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf die Champs-Élysées in Paris zu tragen?

Ehrlich gesagt, ist das das Schlimmste. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mit meinem normalen an den Start gehen. Aber die habe ich nicht. Ich bin jetzt nur diese Schaufensterpuppe, die das Trikot stellvertretend nach Paris fährt. Auf dem Podium wird es dann aber Vingegaard bekommen. Nun gut, so ist die Regel. Damit muss ich leben.

Aber das Trikot ist doch eine feine Sache?

Natürlich ist es schön. Ich glaube, ich habe ihm auch alle Ehre gemacht in den vergangenen neun Tagen. Aber das ist nicht der Punkt. Der Mann zu sein, der das Trikot nur herumträgt und nicht die Wertung anführt, ist kein schönes Gefühl. Aber das ist die Tour.

Geben Sie doch mal einen Rückblick auf die letzten drei Pyrenäen-Etappen: Wie haben Sie sie erlebt, und was hatten Sie sich erhofft?

Die Pyrenäen waren superschwer. Ich habe probiert, so viele Punkte wie nur irgend möglich zu sammeln, habe da auch immer nur von Tag zu Tag geschaut. Es war mir aber vorher klar, dass die dritte Woche auch für den einen oder anderen Einbruch sorgen könnte. Und das ist ja dann leider auch passiert. Ich war fünfmal in Spitzengruppen unterwegs. Das kostet alles Körner. Und dafür habe ich am Ende bezahlt. Andere Fahrer waren noch ein bisschen frischer als ich.

Bereuen Sie ein paar Ihrer Entscheidungen?

Wir können uns keinen großen Fehler vorwerfen, auch als Team nicht. Wir waren krankheitsbedingt nur noch zu fünft, und da kann man das Rennen nicht so beeinflussen, dass es perfekt läuft. Wir haben auch auf der 18. Etappe viel richtig gemacht. Die Beine haben aber nicht so gewollt. Und dann war auch der Rennverlauf ungünstig.

Zwei Ihrer Teamkollegen mussten wegen Covid-Infektionen in diesen Wochen die Frankreich-Rundfahrt verlassen, der dritte mit Erkältungssymptomen bei negativen Tests. Wie groß war die Sorge, auch an Corona zu erkranken?

Natürlich ist man besorgt, dass es einen erwischt. Aber darauf hat man keinen großen Einfluss. Natürlich halten wir uns im Team an alle Regeln und machen, was wir können. Danach kann man aber nur noch hoffen, dass man es ohne positive Tests nach Paris schafft.

Das Straßenrennen bei Olympia haben Sie wegen Corona verpasst, waren stattdessen im Quarantäne-Hotel in Tokio. Hat Sie diese Erfahrung hier noch beeinflusst?

Es war, wie es war, und es war einfach nicht schön. Das bleibt so, und das ändert sich auch nicht durch die Erlebnisse hier bei der Tour.

Was werden Sie denn als angenehmste Erinnerung mitnehmen von diesem Sommer in Frankreich?

Diese neun Tage im Bergtrikot waren einfach schön. Für mich ist es ja auch das Wertungstrikot, das ich am meisten liebe. Ich bin schließlich Bergfahrer. Für mich ging ein Traum in Erfüllung, es bei der Tour zu tragen und zu hören, wie die Leute an der Straße meinen Namen rufen.

Sie können sich ja auch noch über einen deutschen Rekord freuen, das Bergtrikot am längsten getragen zu haben, oder?

(zögert) Puh! Ja, das ist auch schön. Aber für den Rekord gibt es kein Preisgeld. Und ja, einen zweiten Platz in der Bergwertung bis Paris zu verteidigen, wäre dann auch ein deutscher Rekord. Darüber wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich auch viel geredet. Aber es wäre auch schön, wenn in den nächsten Jahren mal ein Deutscher die Bergwertung gewinnt.

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