Im Dickicht des Schaffens

Kunst und Kollektiv (3): Lernen von der Brecht-Maschine

Wir wissen – fast – nichts über William Shakespeare, den großen Weltdramatiker aus Stratford-upon-Avon. Wir kennen lediglich gut drei Dutzend Stücke, einige Versdichtungen und viele formvollendete Sonette. Shakespeare wiederum wusste – fast – alles über uns: von allen Formen der politischen Taktiererei und des unerbittlichen Machtkampfs, von manipulativer Kraft, den Abgründen im Menschen, den Schwierigkeiten des Miteinanders und den Kettenreaktionen, ausgelöst durch individuelles Agieren.

Ganz anders verhält es sich bei Bertolt Brecht. Über ihn wissen wir beinahe alles. In den »Brecht-Chroniken« können wir Tag für Tag aus dem Leben des alten B. B. nachschlagen. Der allumfassenden Biografien gibt es viele. Zuletzt ergänzte Stephen Parker die Reihe um einen weiteren Tausendseiter, der nun auch die Krankenakten des armen Autors einer Untersuchung unterzieht. In diesem Herbst wird Jan Knopfs ebenso umfangreiche »soziale Biografie« erscheinen.

Und doch – es handelt sich um ein Missverständnis. Dieser Eugen Friedrich Berthold Brecht, geboren 1898 in Augsburg, gestorben 1956 in Ostberlin, bekannt geworden als Bertolt Brecht, ist nicht der, den wir meinen. Wir meinen nicht den jungen Mann im zu großen Ledermantel, nicht den alten mit der Zigarre. Wir interessieren uns – wenn wir nicht zufällig den boulevardesken Betrachtungen über individuelle Lebensführung und weiteren minder aufschlussreichen Themen zugetan sind – für den Urheber der brechtschen Werke. Das brechtsche Werk kommt aber – der Name legt es nahe – aus der sagenumwobenen »Brecht-Werkstatt«. Man könnte auch sagen: aus der Brecht-Maschine. Und Brecht ist viele. »Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe«, wissen wir von ihm.

Maschinenkunde

Mit einer Schülerzeitschrift nahm die Arbeit ihren Anfang. »Die Ernte« hieß jenes Augsburger Periodikum, mit dem die nur kollektiv zu bedienende Brecht-Maschine Fahrt aufnahm. Mit seinem Freund Fritz Gehweyer, der schließlich die Gestaltung übernehmen sollte, bereitete Brecht die Herausgabe vor. Mit einem anderen Freund teilte er sich die redaktionellen Tätigkeiten auf. Hier veröffentlichte Brecht auch seine ersten literarischen Texte. Unter seinem eigenen Namen, unter dem Pseudonym Berthold Eugen, dann auch, in Ermangelung weiterer Autoren, unter den Namen seiner Mitschüler. Sie liehen ihm ihre Namen, er lieh ihnen seine Texte. Kleinkariert wäre es zu fragen, wessen Anteil der größere war. Kunst funktioniert nicht nach dem beschränkten Demokratiebegriff von Oberlehrern, sondern hier gilt ein »Jeder nach seinen Fähigkeiten« schon jetzt.

Ein zentraler Begriff bei Brecht lautet »Gebrauchswert«. Material verschiedenster Art wurde auf seine Brauchbarkeit für eine gegenwärtige künstlerische Arbeit geprüft. Der kunstfremde und spießige Vorwurf des Plagiierens ist da beinahe lächerlich und wird nur von denjenigen erhoben, die wohl auch annehmen, Goethe sei ein zweitrangiger Künstler gewesen, da er von Euripides nur »abgeschrieben« habe.

So wie in der Brecht-Maschine fremdes Material nutzbar gemacht wurde, so wurde auch produktiv mit den Fähigkeiten und Talenten der einzelnen Maschinisten umgegangen. Nehmen wir das berühmte Beispiel »Dreigroschenoper«: Für den Stoff sorgte John Gay, der zu dem Zeitpunkt schon fast 200 Jahre unter der Erde lag. Ein bisschen bediente man sich bei Rudyard Kipling und bei François Villon – was dann auch zu dem sprichwörtlich gewordenen Vorwurf der »Laxheit in Fragen geistigen Eigentums« führte, die heute wohl kein Gericht mehr bestätigen würde. Die Übersetzung stammte von Elisabeth Hauptmann. Kurt Weill komponierte. Lion Feuchtwanger erfand den Titel. Karl Kraus dichtete mit. Vieles ereignete sich dann im ohnehin kollektiven Probenprozess (Regie: Erich Engel). Und der Name Brecht fand sich dann also hinter dem Stichwort »Bearbeitung«. Das passte. Kein großer Erfinder, kein Originalgenie wie aus dem vorangegangenen Jahrhundert war dieser Brecht, sondern vor allem das: ein Bearbeiter, ideenreich und wortgewaltig.

Sittenwacht

Nun verhält es sich so, dass das künstlerische Arbeiten selbst den meisten Menschen ein Mysterium ist. Genährt wurde dieser Umstand noch durch die langanhaltende Feier von mit einer geheimnisvollen Gabe gesegneten Einzelpersonen als genialische Künstler. Das Festhalten an diesen romantischen Vorstellungen hat, gepaart mit einem spießbürgerlichen Moralismus, auch zu dem verbreiteten Bild von der Person Brecht als Ausbeuter, vornehmlich der Frauen, mit denen er zusammengelebt und -gearbeitet hat, beigetragen.

Besonders perfide ist der Vorwurf, Brecht habe sich im Exil einen »Harem« gehalten. Damit wird den Frauen um den Dichter nicht nur die Fähigkeit abgesprochen, eigenständig Entscheidungen zu treffen, sondern auch der Umstand außer Acht gelassen, dass seine Unterstützung bei der gemeinsamen Flucht auch die Rettung vor der tödlichen Politik der Nazis für diese Frauen war. Das Brecht-Kollektiv endete nicht am Schreibtisch, war nicht nur Vorspiel für die gemeinsamen Bettaufenthalte, sondern es fußte auf einem solidarischen Miteinander, in dem die künstlerische Arbeit und eine Existenzweise jenseits bürgerlicher Vorstellungen zusammenkamen.

Die Literaturwissenschaftlerin Sabine Kebir, die als Autorin des Bandes »Ein akzeptabler Mann? Brecht und die Frauen« sowie mehrerer biografischer Auseinandersetzungen mit Brechts Mitarbeiterinnen bereits viel Klarsicht bewiesen hatte, stellte kürzlich fest, dass der »Schwerenöter« Brecht, verglichen mit einem beliebigen Hollywoodstar unserer Tage, dann so viele Frauen doch nicht gehabt hat. Ist das noch ein feministischer Vorbehalt, wenn man das Gegenteil behauptet, oder schon der kleinbürgerliche Abgrund, von dem aus man spricht und dem man vielleicht nie entstiegen ist? Als die Schauspielerin Käthe Reichel nach dem Vorwurf gefragt worden war, Brecht habe seine Mitarbeiter ausgebeutet, lachte sie laut auf. Sie beute ihn aus, bis heute, jeden Tag.

Rechenschaftsberichte

Und doch – ist es nicht so, dass die Frauen an Brechts Seite nur stille Zulieferinnen waren? So einfach ist es nicht. Die Verengung des Blicks ausschließlich auf die weiblichen Mitarbeiter, nur weil hier in einigen und bei Weitem nicht allen (!) Fällen auch ein amouröses Verhältnis eine Rolle spielte, ist irreführend. Etliche Männer arbeiteten kollektiv mit Brecht – oder er mit ihnen. Der Umstand, dass der Anteil von Bertolt Brecht an den unter diesem Namen herausgebrachten Werken ungleich höher war, ist unstrittig, widerspricht aber nicht der These, dass diese Arbeiten ohne einen kooperativen Entstehungsprozess so nicht möglich gewesen wären.

Niemand zweifelt an der künstlerischen Geltung der Komponisten der Brecht-Maschine: Paul Hindemith und Kurt Weill, Paul Dessau und Hanns Eisler. Sie verschwinden nicht hinter der Chiffre Bertolt Brecht, sondern haben darüber hinaus hohe Anerkennung in ihrem Fach erlangt. Das Kollektiv um Brecht war kein exklusiver Kreis, sondern ein freier Raum, in dem sich auch ungleiche Persönlichkeiten bewegen konnten, die nur ein künstlerischer und politischer Anspruch einte. Weder war man zur kreativen Entfaltung zwingend aneinander gebunden noch wurden Arbeiten in anderen Konstellationen reglementiert.

Mit erhobenem Zeigefinger wird die Rechtmäßigkeit hinterfragt, wenn hinter dem Kunstwerk nicht mehr der Einzelkünstler steht. Warum eigentlich? Niemandem, der sich dafür interessiert, bleibt verborgen, dass Slatan Dudow keinen minder großen Anteil als Brecht an dem Film »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?« hatte. Niemand zweifelt an Ruth Berlaus maßgeblichem Beitrag zur »Kriegsfibel«. Weitaus seltener wird freilich über Brechts stillschweigende Mitarbeit an den Werken anderer gesprochen. Ausdruck einer schöpferischen Großzügigkeit, die er nicht nur von anderen erwartete, sondern auch zu geben bereit war. Steckt nicht viel Brecht in den Versen der Margarete Steffin? Stammt nicht Wesentliches von Brecht, das sich in Ruth Berlaus sehr lesenswerter Prosasammlung »Jedes Tier kann es« über (weibliche) Sexualität findet? Wird der Hollywoodstreifen »Hangmen also die!« – vielleicht zu Unrecht? – nicht zuallererst mit Fritz Lang und dann erst mit Brecht assoziiert? Liest man nicht unverwechselbar Brecht aus dem Musiktheaterstück »Happy End« heraus, das Elisabeth Hauptmann unter dem Pseudonym Dorothy Lane veröffentlicht hat?

Des Autors Autonomie

Was können wir aber von der Brecht-Maschine lernen? Wie lässt sich, was einmal geglückt ist, wiederholen? Das brechtsche Werk gründet auf der Erkenntnis, dass Kunst ohne politisches Bewusstsein ihrer Produzenten aller Wahrscheinlichkeit nach hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Dennoch werden hier keine Parolen skandiert, sondern dem Publikum wird ein analytisches Vermögen zugetraut. Unter diesen Voraussetzungen machte man gemeinsam Kunst, der Annahme folgend, dass verschiedene Interessen und Begabungen einander beflügeln können. Die Forderung nach der »Trennung der Elemente« – das Zugeständnis, dass etwa in der Oper Schauspielkunst, Bühnenbild, Musik autonome Komponenten darstellen – hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass auch die einzelnen Kunstkollaborateure im Kollektiv autonom agieren können müssen. Eine solche gemeinsame Basis im Geist der Brecht-Maschine zu entwickeln, könnte der Ausgangspunkt für eine Kunst sein, die das Kollektive nicht scheut und einem verkommenen Geniekult Einhalt gebietet.

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