Ein Buchhändler in der Limousine

Eigentlich wurde der Maler Sascha Wiederhold schon in den 1960ern wiederentdeckt, fristet jedoch bis heute ein Schattendasein. Das könnte eine aktuelle Werkschau in der Berliner Neuen Nationalgalerie ändern

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Hier lässt sich viel entdecken: Wiederholds »Jazz-Symphonie« (1927).
Hier lässt sich viel entdecken: Wiederholds »Jazz-Symphonie« (1927).

Die schiere Gewalt der Farben fesselt das Auge schon von Weitem. Im Foyer im Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie hängt seit Kurzem neben dem Eingang zur Sammlungsausstellung das Werk »Bogenschützen« von Sascha Wiederhold. Erst im letzten Jahr wurde es aus Privatbesitz für die Sammlung erworben. Das 1928 gemalte Bild gilt als zentrales Werk des zum damaligen expressionistischen »Sturm«-Kreis gehörenden Wiederhold. Es greift das Motiv einer antiken Jagdszene auf, zerlegt es aber auf raffinierte Weise mit den Methoden kubistischer und futuristischer Malerei. Mal sieht man hier ein Tierauge, dort eine gespannte Bogensehne. Wiederhold nahm aber nicht die alten Jagdbögen zum Vorbild, sondern die modernen Sportbögen. Das Bogenschießen war, als Wiederholds Bild entstand, schon olympisch, als eine Art Avantgardesport war es bei den Olympischen Spielen 1904 sogar die einzige Wettkampfsportart für Frauen! Aus dem Sportschießen entnimmt Wiederhold auch die runden Zielscheiben, die in seinem Gemälde vielfach in verschiedenen Farben auftauchen. Kreise und Kreissegmente das vorherrschende Element dieser etwa sechs Quadratmeter großen Farbkomposition. Wiederhold entwickelte eine spezielle Maltechnik, in der die Primärfarben besonders kräftig zum Ausdruck kamen. Seine Malerei gibt die Hatz, die Turbulenz und die Technikversessenheit der 1920er Jahre exemplarisch wieder.

Das zeigen auch andere Werke der aktuellen Wiederhold-Ausstellung, die man durch einen Eingang auf der gegenüberliegenden Seite des Foyers betritt. Drei weitere große Bildtafeln sind hier zu sehen. »Segelboote im Hafen« besticht durch die abstrakte Linienführung von Masten und Tauen, die vertikal und diagonal das Bild durchziehen. Waagerechte Farbstreifen hingegen sollen die Bootskörper darstellen.

Den größten Eindruck aber macht das Werk »Jazz-Symphonie«, 1927 geschaffen. Technische Objekte in Groß- und Kleinformat wie Schornsteine und Saiten von Musikinstrumenten sind darauf ebenso zu sehen wie Details von menschlichen Gesichtern und Körpern. Alles scheint in Bewegung, nicht immer im gleichen Rhythmus, aber miteinander verbunden. Die Bildfläche ist dabei aufgeteilt in eine schier unüberschaubare Anzahl an unregelmäßigen Drei- bis Fünfecken. Diese Zersplitterung sorgt für Multiperspektivität und verweist darauf, dass unzählige Vorgänge sich in einer Großstadt synchron ereignen. Den Wunsch nach Präzision und Exaktheit, der sich in den klaren Linien und Formen ausdrückt, findet man selbst in Signatur und Datierung des Gemäldes wieder: »5. Dezember 1925. 2.25 Uhr« steht neben dem Namen. Unklar ist dabei aber, ob dieses Datum den Beginn der Arbeit am Bild, deren Ende oder einen besonderen Zeitpunkt während der Arbeit beschreibt. Es drängt sich der Gedanke auf, dass Wiederhold das Faible seiner Zeitgenossen für technische Präzision vielleicht auch nur ironisch kommentieren wollte.

Angesichts der Gestaltungskraft dieses 1904 in Münster geborenen Künstlers, der im Alter von 20 Jahren ins wilde Berlin der Zwischenkriegsjahre kam, ist es verwunderlich, dass die Nachwelt von ihm kaum Kenntnis nahm, anders als von anderen Künstlern, die sich um den Galeristen Herwarth Walden zum »Sturm«-Kreis geschart hatten. Zu ihnen gehörten unter anderen Franz Marc, Max Ernst, Marc Chagall und Wassily Kandinsky. Allerdings wurden manche, wie etwa der jung verstorbene Marc, auch erst postum berühmt. Dennoch, das fast komplette Vergessen Wiederholds verblüfft. Selbst Bemühungen des einflussreichen ungarisch-schweizerischen Kunsthändlers und Auschwitz-Überlebenden Carl Laszlo, Wiederhold nach dem Zweiten Weltkrieg zu größerer Geltung zu verhelfen, trugen wenig Früchte.

Ein Grund dafür mag sein, dass Wiederhold seine künstlerische Karriere früh abbrach. Als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, erkannte er offenbar sehr schnell, dass seine Kunst nicht nur nicht gefragt sein, sondern auch unterdrückt werden würde. Er sattelte daher auf den Beruf des Buchhändlers um und stellte das Malen komplett ein. Nur einige Zeichnungen aus britischer Kriegsgefangenschaft 1946 sind noch überliefert. Ansonsten war er im Buchhandel tätig. Noch 1961, als im Schloss Charlottenburg eine große Ausstellung zu den »Sturm«-Malern gezeigt wurde, war Wiederhold nicht einmal vertreten. Erst nachträglich wurde ein Werk von ihm in die Schau integriert. Und er wurde, wie ein in der aktuellen Schau präsentierter Zeitungsartikel aus jener Zeit genüsslich beschreibt, mit einer Limousine von seiner Leihbücherei im Wedding in die Ausstellung gebracht. »Avantgardist aus der Leihbücherei« ist der Text überschrieben. Wiederhold erzählt darin auch von den Nöten des damaligen Künstlerdaseins, vom ewigen Hunger, der Angst, die Miete nicht bezahlen zu können und den vergeblichen Versuchen, die eigenen Werke überhaupt verkaufen zu können. Mit 200 Mark für ein Bild von Chagall wäre Galerist Walden damals glücklich gewesen, jetzt koste es eine Million, bemerkte er trocken. Auch aus ökonomischen Gründen gab Wiederhold offenbar das Malen auf. »Als ich an der Kunstakademie studierte, arbeitete ich jede Nacht als Taxifahrer – um mir täglich Pferdewurst leisten zu können«, sagte er. Überliefert ist, dass er eine Weile wohnungslos war, in dieser Zeit gelegentlich in einer nicht benutzten Dienstwohnung der Kunstakademie übernachtete – und von der Institution ausgeschlossen wurde, als das entdeckt wurde. Kunstfreundlich mag Berlin auch vor mehr als 100 Jahren gewesen sein, künstlerfreundlich allerdings nicht immer und bei Weitem nicht zu jedem.

»Sascha Wiederhold – Wiederentdeckung eines vergessenen Künstlers«, bis zum 8. Januar 2023, Neue Nationalgalerie, Berlin

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