Erster im Büro

Der Film »Märzengrund« erzählt die Geschichte des Aussteigers Elias, der in der einsamen Bergwelt sein Seelenheil findet

Elias (Johannes Krisch) ist da frei, wo die Welt nicht besonders menschenfreundlich ist, jenseits der Baumgrenze.
Elias (Johannes Krisch) ist da frei, wo die Welt nicht besonders menschenfreundlich ist, jenseits der Baumgrenze.

In einem seiner zig Bücher über den Alpinismus schreibt Reinhold Messner, dass er bei all seinen Begegnungen von den weit gereistesten und pfiffigsten Touristen nie so viel gelernt habe wie von einem Verwegenen, der allein dorthin gegangen ist, wo der Mensch nicht hingehört. Wahrscheinlich schrieb er diese Zeilen mehr an sich selbst denkend als an eine zufällige Bekanntschaft, aber was ist, wenn es wahr wäre? Was erfahren wir über die Welt, wenn wir einem zuhören, der nicht dazugehören will?

Um diese Frage geht es in Adrian Goigingers zweitem Spielfilm »Märzengrund«, der einen Freigeist über einen Zeitraum von 40 Jahren porträtiert. Einer, dem sein Leben im Zillertal in Tirol und wie es von den Eltern vorherbestimmt ist, zunehmend zu eng wird. Es geht um einen, der ausbricht aus dem, was man heute im Selbstkasteiungsdeutsch »Komfortzone« nennt. Elias’ Geschichte basiert auf einer echten Aussteigerbiografie und ist von Felix Mitterer zu einem gleichnamigen Theaterstück verarbeitet worden, das Grundlage für Goigingers Drehbuch war.

Elias (in jung: Jakob Mader, in alt: Johannes Krisch) hat die besten Voraussetzungen für ein Leben ohne größere Vorkommnisse. Sein Vater (Harald Windisch), ein echter Patriarch, ist wohlhabender Großbauer, der den anderen Landwirten um sich herum ihr Hab und Gut abkauft. Genau denen, die es mit der stringenten Lebensführung eben nicht so gut hinbekommen wie er.

All das also wird irgendwann mal Elias gehören. Ein einschüchternder Lebensentwurf, das ist schnell klar, erst recht für einen, der lieber »Robinson Crusoe« liest, als den Stall auszumisten. Dazu eine Mutter (grandios verschroben wie immer: Gerti Drassl, »Vorstadtweiber«), die herrschsüchtig über jeden Lebensbereich ihres Sohnes verfügen will und das als Liebe missversteht. Seine Schwester Rosi (in jung: Iris Unterberger, in alt: Carmen Gratl) pfeffert den Eltern den entscheidenden Satz ins Gesicht: »Ich habe nur einen Wunsch in meinem Leben: Ich will nie so werden wie ihr.«

Elias, der zunehmend in eine Depression verfällt, wird von seinem Vater auf die Hochalm »Märzengrund« geschickt, um dort alles für die Tiere im Sommer vorzubereiten. Das erste Mal fühlt Elias keinen Druck mehr auf der Brust und hat Platz zum Atmen. Beim Almabtrieb im Spätsommer und der Aussicht, anschließend den Hof zu übernehmen, kommt es zur finalen Konfrontation zwischen Vater und Sohn. Für Elias steht fest: Er will über die Baumgrenze, da, wo wirklich kein Mensch mehr hinkommt. Und dort lebt er ein Leben, wie er es sich immer erträumt hat, 40 Jahre lang, bis ihn eine schwere Erkrankung wieder hinunter ins Tal zwingt.

Die Enge zu Hause zeigt die Kamera (Klemens Hufnagl, Paul Sprinz) in dunklen Bildern, das hundert Jahre alte Holz der Zimmerwände scheint immer näher zu kommen, der Kontrast dazu sind die extremen Weitwinkel – bis hin zur Go-Pro-Ästhetik, die die Bergpanoramen und Weideflächen einfangen. Ein naheliegendes wie wirksames stilistisches Mittel.

Die Konflikte der Charaktere sind vorhersehbar, weil ihre Bedürfnisse größtmöglich kontrastiert sind. So ist Elias’ Wunsch nach Freiheit bei dieser Erziehung maximal nachvollziehbar, seinen weiteren Werdegang aber verfolgt man mit erschreckender Gleichgültigkeit. Regisseur Goiginger zeigt, dass es möglich und mutig ist, alles hinter sich zu lassen. Mehr aber auch nicht. Dabei wäre noch so viel Platz gewesen: die erdrückende Beziehung zur Mutter, die Schicksalsgemeinschaft mit der Schwester, die unglückliche Liebe zu einer älteren Frau. Das alles wird so nebenbei wegerzählt und muss sich dem Handlungsstrang vom harten, entbehrungsreichen, aber immerhin völlig losgelösten Leben in der Bergeinöde unterordnen.

Adrian Goiginger war fasziniert von einem, der dem materiellen Reichtum versagt, weil der ihn nicht glücklich macht, schreibt er im Begleittext zum Film und das merkt man dem Drehbuch auch an, eine tiefgehende Charakterstudie über die Antithese zu Elias’ Elternhaus interessiert ihn nicht.

Elias’ Ausbruch taugt hervorragend als moderne Projektion, immer da, wo ein vom Leben getriebener Mensch in Konflikt mit den eigenen Bedürfnissen gerät und die Anpassung an Erwartungen zu oft gewinnt. Endlich schreit’s mal einer raus: »Ich kann da unten nicht atmen!«, knallt Elias auf dem Höhepunkt des Films seinem Vater ins Gesicht. Das Versprechen, dem er dann folgt, ist größtmögliche individuelle Freiheit. Und damit wird die Ausgangsfrage, was uns die Geschichte eines Verwegenen erzählen kann, gleichzeitig auch zum größten Problem des Films. Hier hat einer seinen Platz in der Welt gefunden. Und was machen wir jetzt? Nach Sean Penns »Into the Wild« war man kurz davor, ebenfalls die Bankkarten aus dem Portemonnaie zu reißen und alles abzufackeln. Nach »Märzengrund« schließt man am nächsten Tag wieder die Bürotür als Erster auf und bringt die Kinder zum Flötenunterricht.

»Märzengrund«: Österreich 2021. Regie und Drehbuch: Adrian Goiginger. Mit: Jakob Mader, Johannes Krisch, Gerti Drassl, Harald Windisch. 110 Minuten, Start: 25.8.

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