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  • Karl May und kulturelle Aneignung

Wie es bleibt, ist es nicht – Howgh!

Die kleine Hexe, Pippi Langstrumpf und nun auch Winnetou sind in Gefahr: Läuft etwa die Sprachpolizei Amok?

Die Bücher zum neuen Film "Der junge Häuptling Winnetou"
Die Bücher zum neuen Film "Der junge Häuptling Winnetou"

Welche Debatten schon geführt wurden um die sympathisch anarchische Pippi Langstrumpf! Nicht so sehr wegen der wunderbar antipädagogischen Geschichten, die sich um sie drehen, sondern wegen sprachlicher Verirrungen. Es geht um Pippis Vater: Der Mann, der 1945 noch »Negerkönig« hieß, löste Unbehagen in Leserkreisen (oder bei deren Eltern) aus. »Südseekönig« lautet seine neue Bezeichnung in den seit 2009 und nach einigem Furor erscheinenden Ausgaben. Davon, dass er in den Druckerzeugnissen der DDR seit 1975 schon der »König der Takatukaner« war – übersetzerisch die weitaus schönere Lösung –, wollte man freilich nichts wissen. Auch die Formulierung »Zigeuner« wurde aus den Pippi-Langstrumpf-Texten getilgt.

Ähnlich erging es Otfried Preußlers kleiner Hexe in dem gleichnamigen Kinderbuchklassiker: Auch hier wurde eine inkriminierte Bezeichnung für schwarze Menschen verwendet, bis der Verlag sich vor knapp zehn Jahren eines Besseren besann. Diese sprachlichen Anpassungen waren in beiden Fällen erst nach dem Tod der Schriftsteller möglich, die sich dagegen stets verwahrt hatten.

Nun trifft es auch Karl Mays Geschichten aus dem wilden Westen. Was ist geschehen? Seit gut zwei Wochen ist in deutschen Kinos »Der junge Häuptling Winnetou« zu sehen – ein willkommener Anlass für den Ravensburger-Verlag, ein Buch zum Film in zweierlei Ausgaben vorzulegen. Der Proteststurm ließ nicht lange auf sich warten, und beide Titel wurden wieder aus dem Programm genommen. Nun schmälert es keineswegs die literarische Qualität, wenn man einzelne Formulierungen den Sprachgewohnheiten anpasst – die sich oft genug aus gutem Grund gewandelt haben. Zumal es sich hier nicht um Texte handelt, deren künstlerisches Sprachkonzept damit infrage gestellt würde. Aber auch, weil Literatur für Kinder andere Voraussetzungen mitbringen muss, als es Bücher tun, die sich an ein erwachsenes Publikum richten, das Werke hoffentlich leichter in ihre zeithistorischen Kontexte einzuordnen weiß.

Sprache wandelt sich, und gerade Kinderbücher bedürfen häufiger Aktualisierungen als Veröffentlichungen mit anderen Adressaten. Grimms Märchen etwa, die selbstredend zunächst nicht für Kinder zu Papier gebracht worden waren, liegen heute in etlichen Fassungen vor, die zugänglicher sind als die sperrigen Originale. Auch Kinder haben ein Recht darauf, für sie verständliche Texte lesen zu dürfen oder vorgelesen zu bekommen. Und wenn ein heute junger Mensch in einem Text auf das Wort »Mohr« stößt, weiß er womöglich gar nicht, was damit gemeint ist.

Bei May ist der Fall etwas anders gelagert als bei Lindgren und Preußler. Nicht allein veraltete, heute als diskriminierend empfundene Vokabeln sind Gegenstand der Kritik – gleichwohl der Begriff »Indianer« nicht unproblematisch ist –, sondern die Vorwürfe gehen darüber hinaus: Die brutale Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Amerika komme nicht zum Ausdruck (sie ist allerdings auch ein Thema, das Kindern sensibler vermittelt werden müsste, als es durch eine Abenteuergeschichte möglich ist), es handele sich um eine kolonialistische Sichtweise und letztlich auch um kulturelle Aneignung.

Zur Beruhigung aller überstrapazierten Nerven: Das Abendland wird durch zwei Winnetou-Bändchen weniger auf dem übersatten Buchmarkt nicht untergehen. Wo aber argumentativ einiges durcheinandergerät, lohnt es sich oft, genauer hinzusehen.

Wenn der Verlag nun devot bekennt, dass die Darstellung in den Büchern nicht der realen historischen Situation im Amerika des vorvergangenen Jahrhunderts entspricht, möchte man leise anmerken, dass die Darstellung von Prinzessinnen und Prinzen in der Kinderliteratur wohl auch nur sehr begrenzt zum Ausdruck bringt, wie die gesellschaftliche Realität in Monarchien aussah. Das allseits beliebte Genre der Seeräubergeschichten verschweigt mitunter den martialischen Charakter der Piraterie. Entspringen die bösen Stiefmütter in unzähligen Kinderbüchern nicht einem misogynen Weltbild? Sind Internatsgeschichten nicht bloße Verklärung nach den erschütternden Nachrichten aus der Odenwaldschule? Kurz gefragt: Wo anfangen, wo aufhören?

Wo sonst nach dem freien Markt geschrien wird und auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger verwiesen wird, da soll jetzt durchgegriffen werden. Aber über die Maßstäbe müsste man sich gewissenhaft verständigen. Pädagoginnen und Pädagogen wären gefragt, Auskunft zu geben, welche Art von Vermittlung für teils schwierige Themen notwendig wäre. Aber bitte nicht Pädagogik allein! Denn Kinder sollen mit Büchern nicht nur gebildet und erzogen werden, sondern sie haben ein Recht auf Unterhaltung und sogar auf Kunst. Abenteuerromane lassen sich nicht durch Kinderenzyklopädien ersetzen. Oberseminare in Postcolonial Studies kann man nicht in der Vorschule abhalten.

Einige Kritiker des neuen Winnetou-Films bemängeln die klischierten Bilder und werfen dem Streifen Ignoranz, Provinzialität, Dummheit und Arroganz vor. Willkommen im Zeitalter der Kulturindustrie! Nichts davon dürfte jemanden erstaunen, der einmal einen halben Tag vor dem Fernseher verbracht hat. Ob man dabei Sendungen für Kinder oder Erwachsene ansieht, spielt keinerlei Rolle. Probleme systematisch begreifen zu wollen, ist derzeit weitab der Mode.

Lehrreich ist die Auseinandersetzung um die vorgeblichen Grenzen des Sagbaren aber doch. Der Erregungseifer, mit dem die Netzmenschen im digitalen Raum auftreten, Stimmung verbreiten und damit Tatsachen schaffen wollen, ist ein erstaunliches Phänomen. Und es nimmt nicht wunder, dass eine ähnliche Reaktionsschwemme auf niedrigem Niveau sich ebenfalls breit machte, als der Verlag die zwei Bücher aus dem Programm zurückgezogen hatte. Man blickt fassungslos auf eine Gesellschaft, die das kollektive Aushandeln von Positionen verlernt hat und sich zwischen Troll-Identität, Phrasendrescherei und Shitstorm selbst gefällt. Die Opferrolle wird dabei gekonnt von allen Seiten eingeübt und auf unangenehme Weise zur Schau gestellt: von den moralisch Verletzten wie von den durch »Zensurakte« Empörten.

Wer Kinder unbedacht der Lektüre vergangener Tage aussetzt, macht ebenso einen Fehler wie diejenigen, die glauben, der digitale Mob sei der beste Berater in Fragen der Kinderliteratur. Ein bisschen weniger Aufregung würde uns allen gut tun. Und wenn Sie Ihr Kind nicht zu »Der junge Häuptling Winnetou« ins Kino schicken wollen, dann empfehle ich stattdessen beispielsweise »Der Zirkus« von Charlie Chaplin – das ist ein alter weißer Mann mit Qualitäten.

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