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Ein Streit, der nie vergeht?

Die Marx-Engels-Stiftung lud zu einer Debatte über die Debatten um die documenta15

  • Bernd Kant )
  • Lesedauer: 4 Min.

Aller guten Dinge sind drei. Am vergangenen Wochenende lud die Marx-Engels-Stiftung (MES) zum dritten Mal zu einer Debatte zur documenta nach Kassel. Dass ein Bedarf an linker Reflexion dieser Weltkunstausstellung gegeben war, zeigte die Zahl der Interessenten. Anders jedoch als viele Kritiker der Schau, die mit grundsätzlicher Verdammung schnell bei der Hand waren und sind, machten sich die Tagungsteilnehmer*innen vor der Diskussion zunächst in Rundgängen durch zentrale Ausstellungsorte ein Bild von den Werken und Installationen. Dass dies nur ausschnittsweise möglich ist, ergibt sich allein aus der beeindruckenden Zahl der Präsentationsstätten: über 30 in der Innenstadt und im Kasseler Osten. Das zwingt zur Auswahl. Zudem sind viele Objekte tatsächlich erst für den Betrachter verstehbar, wenn man sich die dazugehörigen Videos mit Hintergrundinformationen ansieht und anhört, was allerdings – konsequent praktiziert – den zeitlichen Rahmen eines Besuches sprengen würde. Einige Teilnehmer hatten die Ausstellungen bereits mehrfach besucht und sich mit zentralen Streitpunkten bereits intensiv beschäftigt. Es kam also ein fach- und sachkundiges Publikum zusammen, das zu unterschiedlichen, teils kontroversen Sichtweisen gelangte, vielfach schon im Vorfeld der Tagung vorgetragen.

Sind beispielsweise das Projekt »Tent Embassy«, die Schuldenuhr sowie die Bilder des Protestes von Richard Bell, Sohn einer Aborigines-Familie, eher als politischen Aktivismus denn als Kunst zu bezeichnen? Und was bedeutet es, wenn Installationen und Objekte einer zusätzlichen Video-Interpretation der Künstler bedürfen, um für die Betrachter nachvollziehbar zu sein? Kommt dies nicht einer Geringschätzung der Bilder- und Objektsprache gleich beziehungsweise Zweifeln an der Intelligenz und dem Einfühlungsvermögen der Betrachter? Ist dies heute zwingende Voraussetzung für das Verständnis von Künstlern und ihren Werken? Bereits auf informellen Treffen am Vorabend entwickelte sich ein lebhafter Austausch, bei dem es um Fragen des documenta-Konzepts, von Ansprüchen an künstlerische Ausdrucksformen und historisch-kulturelle Hintergründe und Perspektiven ging.

Auf der Tagung am Samstag beschäftigte sich dann Hans Otto Rößer erfrischend polemisch mit den mystizistischen Verwirrungen mancher gezeigten Objekte und Installationen, unter anderem der Woodoo-Kult-Figuren von Artis Rezistants, jungen haitianischen Maler*innen und Bildhauer*innen, in der St. Kunigundis-Kirche, die auch bei gläubigen Katholiken Irritationen ausgelöst haben. Der Wissenschaftler kritisierte die rhetorische und begriffliche Überladung von Erläuterungen zu Kunstwerken, die weniger zum Verständnis beitragen, sondern vielmehr noch mehr Verwirrtheit und schließlich Distanz schaffen würden. Gerald Warnke beleuchtete die Geschichte der documenta und die problematische Rolle eines ihrer Mitbegründer, Werner Haftmann, was im Frühjahr dieses Jahres auch im Deutschen Historischen Museum in Berlin problematisiert worden war. Das Bekanntwerden der Beteiligung von Haftmann bei Kriegsverbrechen in Italien hat das Image der documenta als »kultureller Neuanfang« nach der Befreiung vom Faschismus deutlich angekratzt. Hinzu kommt, dass die erste documenta laut Warnke keine Werke jüdischer Künstler zeigte, die seinerzeit von den Nazis als »entartete Kunst« diffamiert, verbannt und vernichtet worden waren. Deutlich sichtbar war von Anfang an auch eine antilinke Stoßrichtung in deren Kunstkonzeption. Nazikunst und sozialistischer Realismus wurden gemäß der Totalitarismusthese gleichgesetzt, zudem jegliche figürliche Malerei und Bildhauerei als überholt denunziert. Ein abstrakter Expressionismus á la Jackson Pollock und anderen war für die documenta lange Zeit das künstlerische Leitbild.

Anders als in den Medien ging es bei den Debatten der Marx-Engels-Stiftung weniger um die Antisemitismus-Vorwürfe, sondern insbesondere um die Intentionen des indonesischen Kuratoren-Teams und die Frage, wie beziehungsweise ob es überhaupt Künstler-Kollektiven aus dem »globalen Süden« gelingt oder gelingen kann, ihre gesellschaftspolitische Kritik an den ökonomischen und politischen Ausbeutungsverhältnissen einer neoliberal strukturierten kapitalistischen Welt mit ihren Mitteln angemessen zu offenbaren. Viele der auf der documenta ausstellenden Kollektive verstehen sich als Künstler*innen und zugleich Aktivist*innen einer anderen Weltökonomie. Ihre Artikulations- und Gestaltungsformen reichen von Agit-Prop und Plakatkunst, wie sie Taring Padi, eine 1998 im Untergrund gegründete indonesische Künstler*innengruppe, praktiziert, über Projekte zur Einbindung sozial Benachteiligter, so durch Wakaliwood, eine Ultra-low budget-Filmfirma in Uganda, bis hin zur Schaffung von Arbeitsplätzen, beispielsweise mit einem Ziegelwerk auf Java. Diese, tradierte Vorstellungen von Kunst und Kultur sprengenden Arbeiten beziehungsweise Aktionen führten zu etlichen kritischen Nachfragen hinsichtlich des Anspruchs der documenta, eine Weltschau zeitgenössischer Kunst zu sein. Was ist Kunst, was nicht? Gehört die Illustration sozialer Zustände, gehören politische Botschaften dazu? Und auch alternative Arbeits- und Lebensweisen?

Ein Konsens hierüber kam bei den Debatten am Wochenende in Kassel nicht zustande. Wird und sollte es wohl auch nicht geben. Endgültige Antworten sind nicht zu erwarten. Und so wird die Debatte, nicht nur um die documenta, weitergehen und vermutlich nie enden.

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