»Die Menschen sitzen hier fest«

Azizou Chehou von Alarmphone Sahara über die EU-Grenze in Westafrika und die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe

Agadez ist das Tor zur Sahara. In Transitzentren wie diesem sollen Flüchtende von ihrem Weg nach Europa abgehalten werden.
Agadez ist das Tor zur Sahara. In Transitzentren wie diesem sollen Flüchtende von ihrem Weg nach Europa abgehalten werden.

Niger gilt seit 2015 als »Grenzwächter Europas«. Im Juli hat die EU ihre Zusammenarbeit mit dem westafrikanischen Staat durch eine sogenannte Anti-Schmuggel-Partnerschaft intensiviert. Der Sahelstaat soll Migrant*innen davon abhalten, die Fluchtroute über die Sahara und Libyen zum Mittelmeer zu erreichen. Sie leben in Agadez, einem wichtigen Knotenpunkt. Wie ist die Lage vor Ort?

Interview

Azizou Chehou ist Lehrer und Gewerkschafter und lebt in Agadez. Er koordiniert die Arbeit von Alarmphone Sahara. Ulrike Wagener sprach mit ihm über die Interessen der EU in Niger und die Kriminalisierung von Migration.

Die EU hat ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers ausgelagert. Agadez liegt rund 1000 Kilometer entfernt von der Grenze zu Libyen. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hat hier 2010 angefangen, »Transitzentren« für Migranten zu bauen, bezahlt von EU-Staaten. Von hier sollen aus Libyen oder Algerien zurückgeschobene Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Doch die Zentren sind überfüllt, viele Migranten (Original: People on the Move) leben auf der Straße, Frauen prostituieren sich, Kinder betteln, die Menschen haben keinen Ort, wo sie sich oder ihre Kleidung waschen können. Lokale Politiker gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung der Stadt durch die People on the Move verdoppelt oder sogar verdreifacht hat. Die Menschen sitzen hier fest. Viele warten mehr als sechs Monate auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland.

Die Menschen wollen also zurück?

Sie haben keine andere Wahl. Wenn sie aus Algerien oder Libyen zurückgeschoben werden, haben sie kein Geld, keine Dokumente, keine Kleidung. Ihnen bleibt nur, zu ihren Familien zurückzukehren. Viele schämen sich dafür, dass sie nach jahrelanger Abwesenheit von ihrer Familie mit leeren Händen zurückzukommen. Zuletzt gab es eine Protestaktion einer senegalesischen Gemeinschaft, deren Rückreise viermal verschoben wurde. Sie drohten, sich zu Fuß auf den Weg nach Senegal zu machen und begannen zu marschieren. Ende September wurden nun 130 von ihnen mit einem Flugzeug in den Senegal gebracht. 40 weitere warten immer noch.

2015 hat Niger das Gesetz 036 erlassen. Es macht Migration und ihre Unterstützung (also etwa Transport oder Unterkunft von Migrant*innen) illegal. Verstöße werden mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu umgerechnet 3000 Euro – geahndet. Hat das einen Einfluss auf ihre Arbeit?

Ja, statt den offiziellen Routen zu folgen, gibt es jetzt verschiedene Fluchtrouten durch die Sahara. Sie sind gefährlicher und teurer. Außerdem sind die Fahrzeuge nicht mehr wie früher in Konvois unterwegs, sondern vereinzelt. Wenn ein Auto in der Wüste liegenbleibt, gibt es darum kaum Hilfe. Denn schon allein das Telefonieren mit einem Satellitentelefon gilt als Straftat. Nur wenn zufällig ein anderes Auto vorbeikommt und dies in einem Dorf meldet, dann werden wir gerufen und können Rettungseinsätze organisieren.

Seit 2014 hat die UN 2000 Todesfälle in der Sahara registriert. Expert*innen rechnen mit weit höheren Zahlen, die meisten Toten werden nicht gefunden. Was tun Sie, wenn Sie Menschen in Not finden?

Unser Motto lautet »right to go, right to stay« (Recht zu gehen, Recht zu bleiben) Wenn wir zu einem Rettungseinsatz fahren, ändern wir nicht die Richtung des Autos, sondern fahren die Menschen in der gleichen Richtung bis zum nächsten sicheren Ort.

Wie viele Einsätze haben Sie?

Das hängt von den Anrufen ab, die wir erhalten. Wir planen Patrouilleneinsätze etwa viermal im Jahr. Aber wenn wir Notrufe erhalten, machen wir Sondereinsätze, abhängig von unseren Kapazitäten. Wir haben kein eigenes für die Wüste ausgestattetes Auto und nur wenige finanzielle und personelle Ressourcen.

Erfahren Sie Repressionen?

Ja. Offiziell soll das Gesetz 036 Menschenhandel bekämpfen. Aber das ist ein vages Konzept. Wenn jemand seine Familie im Ausland kontaktieren will und ich ihm oder ihr mein Telefon gebe, bin ich ein Krimineller. Wenn ich jemandem Unterschlupf gewähre, bin ich ein Krimineller. Wenn ich einem Hungrigen zu essen gebe, bin ich ein Krimineller. Alle NGOs fallen unter dieses Gesetz. Unsere Arbeit ist eingeschränkt, einer unserer Mitarbeiter sitzt seit letztem Februar im Gefängnis.

Wofür?

Er hat einem Migranten geholfen. Weil er selbst auch ein Migrant ist, hatte er die Möglichkeit, in die IOM-Zentren zu gelangen. Er besuchte Migrant*innen in den Unterkünften und gab Informationen aus seinen Gesprächen an uns weiter. Er sollte erst für eine Kaution freigelassen werden. Als wir das Geld zusammen hatten, wollten sie noch mehr, das konnten wir nicht auftreiben. Jetzt wird ihm Menschenschmuggel und Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung angelastet.

Gibt es zivilen Widerstand gegen diese Zusammenarbeit zwischen der EU und Niger?

Ja. Wir haben eine offizielle Beschwerde gegen die nigrische Regierung wegen des Gesetzes 036 eingelegt. Zusammen mit Organisationen aus Mali, Nigeria und Italien haben wir Zeugenaussagen von Menschen gesammelt, deren Rechte auf ihrem Weg verletzt wurden. In den meisten Fällen handelt es sich um körperliche Misshandlungen, Vergewaltigungen durch Uniformierte, Erpressung und die Vernichtung von Dokumenten. Die Regierung hat nun einen Monat Zeit, darauf zu reagieren. Ende September haben wir auf Veranstaltungen in Strasburg und Rom darüber informiert. Wir sind nur ein kleines Netzwerk und sind auf die Unterstützung europäischer Organisationen und Medien angewiesen.

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