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Datenjäger gegen Kartensammler

Die Zwangs-Digitalisierung schreitet voran, stellt Christoph Ruf fest

Auslaufmodell: das Metro-Ticket auf Papier
Auslaufmodell: das Metro-Ticket auf Papier

In der Pariser Metro brechen jetzt paradiesische Zeiten an. Nicht, dass die Tickets billiger würden, die Bahnen sauberer, schneller oder pünktlicher. Nein, die papiernen »billets« werden sukzessive abgeschafft. Und das – blöder Zufall – obwohl sie immer noch sehr begehrt sind. Von einer Korrespondentin wird die Nachricht abgefeiert, ein Pressesprecher der Verkehrsbetriebe hat ihr offenbar erfolgreich erklärt, was für ein Fortschritt das doch für die Umwelt sei. Selbstverständlich soll auch das neue 49-Euro-Ticket, wenn es dann mal kommt, nur digital angeboten werden. Warum, haben sie noch nicht schlüssig begründet. Ist ja auch nicht leicht, einer 78-Jährigen zu erklären, dass sie sich ein Handy kaufen muss, bevor sie mit dem Bus in die Stadt fährt.

Christoph Ruf
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Von meinem Wohnort aus bin ich mit dem TGV in zwei Stunden in Paris, weswegen ich noch ein paar Metrotickets zu Hause habe. Meine Briefwaage zeigt weniger als ein Gramm Gewicht pro Ticket an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob nach Einführung der Chipkarte der Treibhauseffekt den Geist aufgibt. Chipkarten sind nämlich nicht aus Luft. Sie haben dafür aber andere Vorteile – zumindest für die, die sie ausgeben. Natürlich kann Digitalisierung praktisch sein, jeder soll sie so stark nutzen, wie er will. Was aber gerade passiert, ist eine Zwangs-Digitalisierung, bei der der Anbieter entscheidet, was die Kunden nachzufragen haben. Während der Corona-Pandemie sind einige auf den Trichter gekommen, dass sie sowohl das lästige Bargeld als auch die lästigen Papiereintrittskarten vom Markt nehmen wollen. Zweiteres der Umwelt zuliebe. Wer könnte da etwas dagegen haben?

Nun, Leute, die wissen, dass der weltweite Stromverbrauch im Internet deutlich höher ist als der von Ländern wie Russland oder China. Aber erzählen Sie das mal dem Manager eines deutschen Fußballklubs, der stolz darauf ist, dass es bei ihm jetzt auch nur noch E-Tickets gibt. Denn die seien, er sagt das wirklich, »ein wichtiger Baustein unserer Nachhaltigkeitsoffensive«. Am ersten Spieltag dieser Saison, dem ersten ohne Papier-Karten (ich habe ein paar hundert zu Hause und gebe zu, dass sie für mich Kindskopp einen ideellen Wert haben), standen dann etwa 10 000 Leute mit gezückten Handys vor den Einlasskontrollen, die anderen 15 000 hatten ihr E-Ticket (meist farbig) ausgedruckt. Dass das die Umwelt begeistert, darf bezweifelt werden. Hocherfreut war aber sicher der Kassierer, denn der nahm von allen, die sich an der Tageskasse mit einer Karte versorgen wollten, drei Euro Aufpreis. Auch beim Spiel Wacker Burghausen gegen Vilzing haben ich und mein Sohn dieses Jahr vier Euro mehr gezahlt als sonst – je zwei Euro Zuschlag für die am Kassenhäuschen gekaufte Eintrittskarte.

Doch das pathologische Bedürfnis der Fußballbranche, aus ihren Fans immer noch mehr Geld herauszupressen, ist selbst in der Bundesliga gar nicht der Hauptgrund für die Digitalisierung. Es geht schlicht und einfach darum, möglichst viele Daten von potenziellen Kunden zu sammeln. Wer sein Ticket online bestellt, hinterlässt eine E-Mail-Adresse, seine Bankverbindung und seinen Namen. Wer stattdessen an die Kasse geht, »einmal Stehplatz« sagt und statt einer EC-Karte einen Geldschein über den Tresen schiebt, hinterlässt das Gleiche wie der Metro-Kunde, der bar seine Billets kauft und damit lustig wochenlang kreuz und quer durch Paris fährt: NICHTS!

Keine Adresse, die man mit Werbung zumüllen könnte, keine Daten, mit denen sich Bewegungsprofile der letzten Jahre erstellen ließen, nichts also, was datensammelwütige Manager glücklich machen würde. Menschen, die einen Liter Milch bar bezahlen wollen und den Kauf einer Eintrittskarte als Mittel zum (eigenen) Zweck sehen, sind aber das erklärte Feindbild der Zwangs-Digitalisierer, die zwei Personengruppen liebend gerne über den Jordan gehen lassen: Menschen ohne Handy und solche, die zu alt für die schöne neue Konsumwelt sind. Viele von denen sieht man manchmal auch ziel- und hilflos vor Restaurants herumirren, die – oh, wie modern – die Speisekarte über QR-Code abrufen lassen. Dabei wollten die armen Leute doch eigentlich nur etwas essen.

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