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Ein Kaleidoskop aus Scherben

Das Doppelalbum »Keine Macht für Niemand« hat 50. Geburtstag. »Ein Ton Steine Scherben Song­comic« macht aus jedem Lied ein Kunstwerk

  • Axel Klingenberg
  • Lesedauer: 5 Min.
Frankfurter Buchmesse – Ein Kaleidoskop aus Scherben

Jeder Ton-Steine-Scherben-Fan hat seine eigene Geschichte, wie er oder sie zu dieser Band gekommen ist. Meine spielt Anfang der 90er-Jahre. Ich legte damals jedes Jahr viele Tausend Kilometer in meinem Fiat Panda zurück. Von Antifa-Demo zu Antifa-Demo, von Plenum zu Plenum. Immer dabei: Tapes mit Hardcore- und Punk-Musik. Und eine unverzichtbare Ton-Steine-Scherben-Kassette. Eine meiner Mitschülerinnen am Braunschweig-Kolleg, die ich zur allwöchentlichen Badminton-Stunde mitnahm, spottete eines Tages freundlich über die Lieder der Berliner Band, die sie als »Krach« wahrnahm. Meine Französischlehrerin – eine sogenannte 68erin – konnte meine Begeisterung hingegen durchaus nachvollziehen.

Vielleicht wichtiger als die Klänge waren für mich aber die Texte dieser Band. Möglicherweise ist ihre Musik ohne die Worte tatsächlich auch gar nicht wirklich zu verstehen (was immerhin ihre notorische Erfolglosigkeit im nicht deutschsprachigen Ausland erklären würde). Für mich bedeuteten sie alles: Ich hatte gerade erst meine Beamtenlaufbahn hingeworfen und besuchte nun das Braunschweig-Kolleg, auf das schon Benno Ohnesorg und Uwe Timm gegangen waren – und dessen Architektur noch seine Entstehung als HJ-Führer-Schule verriet. Unter den Schülern: ein wilder Haufen Punks, Hippies, Grufties und Autonomer. Mich machte es glücklich, in meinen DocMartens mit den roten Schnürsenkeln durch diese heiligen Hallen zu wandeln, die von den Faschisten erbaut worden waren, um der angeblichen Herrenrasse willige Erzieher zu schenken. Denn statt der Nazis gingen nun wir hier zur Schule. Der Weltgeist war auf unserer Seite.

Die Scherben waren zu diesem Zeitpunkt schon längst Geschichte: 1970 gegründet, hatten sie 1971 ihr furioses Debüt »Warum geht es mir so dreckig?« veröffentlicht, dem 1972 das ikonische Meisterwerk »Keine Macht für Niemand« folgte: ein Doppelalbum, dessen erster Auflage eine Zwille beilag. Auf der Rückseite des Covers stand ein Aufruf: »Meldet uns die Läden, die diese Platte teurer als 20 Mark verkaufen«.

Auch ihr Status als Vorzeigeband der linken Szene ist legendär, ebenso wie die Hausbesetzungen im Anschluss an ihre Konzerte, die ständigen Diskussionen mit dem Publikum, warum sie denn auf Deutsch singen, und mit den Veranstaltern, die sogar das Spritgeld verweigern, weil sie doch »Genossen« seien. War ihr Debüt eine Art Frühpunk (was auch an ihren damals limitierten musikalischen Fähigkeiten lag), so veröffentlichten sie ihre Platten in ihrer eigenen Firma: David Volksmund Produktion. Es war das erste deutsche Indielabel, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Mitte der 70er verließen sie die wilde Frontstadt Westberlin und setzten sich nach Nordfriesland ab, ins stille Fresenhagen, wo sie eine Landkommune gründeten. 1985 lösten sie sich auf nach einer auslaugenden und finanziell desaströsen Tournee. Ihr Leadsänger Rio Reiser wurde dann Popstar, um die Schulden der Band wieder einzuspielen.

Ihr Ruhm ist seitdem jedoch stetig gewachsen. Schon Slime haben ihnen in ihren Anfangsjahren ihre Referenz erwiesen, für Blixa Bargeld waren sie »die einzige deutsche Verkörperung der Idee von Rockmusik«, und bis heute werden sie gern gecovert, ob in Punkrock, Hip-Hop oder Dub, von den Prinzen über Wir sind Helden bis zu Dritte Wahl. Ihr Einfluss auf die deutschsprachige Rockmusik ist also kaum zu unterschätzen.

Doch was macht sie eigentlich so besonders? Auf der einen Seite natürlich ihr rock- und bluesbasierter Präpunk, der immer noch wütend klingt und jung und hart und schmutzig, was aber durch sanftere und verspieltere Saxofon- und Querflötentöne konterkariert wird. Aber da sind natürlich auch die erwähnten Texte, die immer noch eine unerschütterliche Unversöhnlichkeit ausstrahlen, aber auch einen erfrischenden Geschichtsoptimismus und vor allem: Klassenbewusstsein. Gerade die beiden letzten Dinge scheinen jungen linken Musikern heutzutage oft abzugehen. Allein deswegen bleiben Ton Steine Scherben unverzichtbar.

Schon 2006 ist ein Comicband von Wolfgang »Wolle« Philippi erschienen, der sich an einer künstlerischen Umsetzung des Albums »Keine Macht für Niemand« versuchte. Nun gibt es eine weitere gezeichnete Hommage an diese Band. »Keine Macht für Niemand. Ein Ton Steine Scherben Songcomic« wird von Gunther Buskies und Jonas Engelmann herausgegeben und ist im Ventil-Verlag erschienen. Die Bildergeschichten illustrieren nicht einfach die Lieder des Albums, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert, sondern interpretieren und kommentieren, schaffen also eigenständige Kunstwerke. Das wirft manchmal Fragen auf (warum endet Nicolas Mahlers Interpretation von »Feierabend« mit einem angedeuteten Selbstmord?), eröffnet aber immer auch neue Perspektiven.

Und zeigt die Aktualität der Songs: Reinhard Kleists sparsam kolorierte Zeichnungen zu »Menschenjäger« wurden mit Anspielungen versehen, die zeigen, dass in den letzten Jahrzehnten doch vieles gleich geblieben ist, auch wenn sich die Namen geändert haben mögen. Rahel Suesskinds und Sheree Domingos knallbunte Gewaltfantasie zu »Paul Panzers Blues« spiegelt hingegen sehr gut den Frust der damaligen Lehrlinge und Jungarbeiter wider, Sascha Hommers »Schritt für Schritt ins Paradies« kommt ironisch und komisch daher, »Allein machen sie dich ein« von Mia Oberländer erinnert – im besten Sinne – an die Illustration eines Kinderbuches, und der berühmte »Rauch-Haus-Song« von 18 Metzger wird durch eine makabere Hausbesetzergeschichte entromantisiert. Und auch »Die letzte Schlacht gewinnen wir« wird durch einen autobiografischen Erlebnisbericht vom legendären 1. Mai 1987 von Bianca Schaalburg kritisch kommentiert.

Hinzu kommen einleitende Texte der Zeichner*innen zu den einzelnen Songs und Bonus-Tracks (zwei Original-Scherben-Comics von Rio Reiser und Nikel Pallat) sowie Liner Notes von ehemaligen Bandmitgliedern und Bandgefährten; auch Rio Reiser kommt natürlich postum zu Wort. Hierdurch erfährt man zum Beispiel, dass Jörg Schlotterer den Text von »Die letzte Schlacht gewinnen wir« inzwischen durchaus kritisch sieht.

Die Bedeutung dieses Albums wird jedoch durch diese Interventionen keineswegs geschmälert. Vielmehr erfährt es durch den Comicband nicht nur eine historische Einordnung, sondern auch eine angemessene Würdigung. Deutlich wird, dass viele Scherben-Songs (»Mensch Meier«) auch Jüngeren noch etwas zu sagen haben. Und wir alle werden daran erinnert, dass manche dieser Lieder von zeitloser Schönheit sind: »Komm, schlaf bei mir«.

Es ist also Zeit, mal wieder Ton Steine Scherben zu hören. Und dabei ein gutes Buch zu lesen. Dieses hier zum Beispiel.

Gunther Buskies/Jonas Engelmann (Hg.): Keine Macht für Niemand. Ein Ton Steine Scherben Songcomic. Ventil-Verlag, 128 S., br., 25 €.

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