Hinter der Maskerade

Regisseurin Uli Decker forscht ihrem Vater nach, der mit Geschlechteridentitäten nichts anfangen konnte, aber sehr katholisch war

  • Erik Hanzlicek
  • Lesedauer: 4 Min.
Helmut Decker war der Meinung, dass männlich und weiblich transzendente Zustände sind.
Helmut Decker war der Meinung, dass männlich und weiblich transzendente Zustände sind.

Eine Person gleitet auf dem Rücken durch das Wasser, blaue Hose, weißes Hemd, brauner Gürtel. Männermode. Später in Uli Deckers neuem Film »Anima – Die Kleider meines Vaters« wird dieselbe Person noch einmal im roten Kleid auftauchen. Frauenmode. Diese beiden, durchaus stereotypen Pole sind es, zwischen denen das Leben des Vaters Deckers, Helmut, hin- und her oszillierte. Helmut Decker, geboren 1936, erkannte ungefähr mit zehn oder elf Jahren seine Neigung, Frauenkleider tragen zu wollen, lebte diese Neigung aber über Jahrzehnte nur im Geheimen aus. An der Aufarbeitung dieses Geheimnisses und seiner Auswirkungen versucht sich Uli Decker nun viele Jahre nach dem Tod des Vaters in dokumentarischer Form. Nachdem sie, nach eigener Aussage, in einer Bar eine Magierin traf, die ihr die Tarotkarten legte und daraus ihr Schicksal las, dass sie ihr Erbe annehmen solle, reist sie in ihr Heimatdorf in der bayerischen Provinz und durchforstet Tagebücher, gesammelte Zeitungsartikel und Dokumente ihres Vaters.

Wir lernen einen sehr sensiblen, gut gebildeten Mann kennen, der allerdings stark in sich gekehrt ist und unter dem Verschweigen, dem Verbergen vor den Anderen, leidet. Hinzu kommt, dass Helmut Decker ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Katholizismus unterhält. Er ist fasziniert von den Gewändern und Praktiken des Klerus, dem »katholischen Geheimnis mit seiner lateinischen Geheimnistuerei« (Tagebucheintrag Deckers) und er wird selber Dom-Ministrant, nimmt an Prozessionen teil. Die Beichte hingegen hasst er, die für die Dom-Ministranten verpflichtend ist. Hier muss er sich offenbaren, ein kohärentes, identisches und identifizierbares Selbst werden. Das schlechte Gewissen, nicht den gesellschaftlichen Geschlechternormen zu entsprechen, wird in dieser Prozedur noch einmal verstärkt. Hingegen leicht wird es ihm, wenn er in Münchener Fußgängerzonen »transvestiert«, wie er sagt. Die Blicke der Anderen treffen ihn, verkennen ihn aber, eine Maskerade, ein Schauspiel.

Die Großstadtanonymität besitzt befreiende Effekte, die die Enge der bayerischen Kleinstadt und die bürgerliche Kleinfamilie nicht geben können. Für Helmut Decker wird die wichtigste und einzig befreiende Beichte jene gegenüber seiner Frau Monika Anfang der 90er Jahre sein, seiner großen und einzigen Liebe. Zusammen halten sie die Fassade der normalen Familie gegenüber ihren Kindern und der Dorfgemeinschaft aufrecht, was einerseits Konflikte nach innen, zumal mit Uli, verschärft, die selber versucht, aus dem starren Geschlechterkorsett auszubrechen, nach außen anderseits dem Vater die Kraft gibt, ein Sozialleben aufzubauen.

Besonders der Bibelkreis wird für ihn ein Ort der Freundschaftspflege. Auch wenn der Film sich immer wieder über die katholische Kirche lustig macht und zu Recht ihre repressive Sexual- und Geschlechtermoral kritisiert, scheinen der Glaube und die Praktiken der Kirche Helmut Decker auch immer wieder Hoffnung und Inspiration gegeben zu haben. Im zentralen Tagebuch-Zitat meint Decker, dass es ihm nicht darum gehe, eine weibliche Identität aufzubauen, sondern mit der Hilfe weiblicher Rollenmuster die männlichen zu transzendieren und seiner »Seele Freiheit zu verschaffen«.

Schon den Begrifflichkeiten nach ist man hier im Bereich der Metaphysik, und so sehr die Filmemacherin Kind spätkapitalistischer Immanenz ist, finden sich im Film auch immer wieder Hinweise auf ihre eigene Sinnsuche. Und die marktförmigen, oft irrationalen Angebote, die diese Gesellschaft dafür bereithält. Hexerei und Tarot sowie Schicksalsgläubigkeit werden schon zu Beginn des Films als Mittel der Selbstauseinandersetzung dargestellt, nicht zufällig Praktiken und Ideen, die sich im (Queer-)Feminismus seit geraumer Zeit bei nicht wenigen einiger Beliebtheit erfreuen.

Zudem verweist der Filmtitel und Aussagen aus Helmut Deckers Tagebuch auf die weiblichen Archetypen im kollektiven Unbewussten nach C.G. Jung. Aus ihnen sollen sich Emotionen und Imaginationen im individuellen, männlichen Subjekt speisen. Dasselbe gilt vice versa für das weibliche Subjekt und den Animus (Latein für Seele, Geist). Diese Archetypen sind allerdings ahistorische Strukturen und der kritischen Reflexion entzogen, was sie tendenziell zurück in den Mythos fallen lässt. Damit werden sie für Erklärungsansätze von Geschlechterverhältnissen attraktiv, die das Individuum nicht als »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx) sehen wollen oder können, sondern wieder vergeschlechtlichte Verhaltensmuster mit Ewigkeitsgarantie einführen, wenn auch auf vielfältigere Weise innerhalb eines Individuums.

Darin unterscheiden sich Vater wie Tochter Decker in ihren Herangehensweisen gar nicht so sehr, und wenn Uli Decker versucht, Gesellschaft und ihre Produktion von Normalität in den Blick zu nehmen, bleibt dies leider oft an der Oberfläche. Berührend und wahrhaftig ist der Film immer dort, wo die Familienkonstellationen aufgefächert und ihre Zusammenhänge mit den Widersprüchen des Vaters, mit sich, mit seiner Umgebung und mit seinen Nächsten klarer werden. Die retrospektive Beichte, die dieser Film ist, kann allerdings nicht alles offenbaren, es bleiben Leerstellen und offene Rätsel, innen wie außen.

»Anima – Die Kleider meines Vaters«: Deutschland 2022. Regie und Drehbuch: Uli Decker. 94 Minuten, Start: 20.10.

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