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  • Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Menschen und Kakaobohnen

Ina Vogt erlebte koloniale Relikte, aber auch Solidarität mit São Tomé und Príncipe

  • Jutta Grieser
  • Lesedauer: 5 Min.

Im September 1986 fliegt Ina Vogt an den Äquator. Sie ist 23 und hat eine vierjährige Tochter, ihr Mann wurde offiziell nach São Tomé und Príncipe abkommandiert, um mit einer FDJ-Freundschaftsbrigade Aufbauhilfe zu leisten. Sie ist, so schreibt sie, dessen Anhängsel, bar einer konkreten Aufgabe. Die werde man vor Ort für sie finden.

Die bis dahin in der Stadtverwaltung von Radebeul Tätige weiß nicht einmal, wo dieses Land liegt. Es gibt in der DDR keine Literatur über die winzige Republik vor der Westküste Afrikas. (Das hat sich bis heute übrigens kaum geändert.) Nur so viel ist ihr bekannt: Nach der Nelkenrevolution in Portugal 1974 war die portugiesische Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen worden. Die beiden Hauptinseln sind zusammen keine 1000 Quadratkilometer groß – ein Viertel der Fläche vom Bezirk Suhl, des kleinsten Bezirks der DDR. 

Die Inselrepublik braucht Aufbauhilfe. Die Sozialisten im Norden schicken sie: die Kubaner Ärzte, die Sowjets Militärberater, die DDR eine FDJ-Freundschaftsbrigade, die Maurer ausbilden soll. Im Buch erfährt man eher beiläufig, dass auch medizinisches Personal mit DDR-Pass vor Ort ist, Geologen, Monteure, die eine Brauerei und eine Ziegelei errichten sollen oder wollen, sowie die Besatzung einer Handelsvertretung.

Die zuständige Botschaft sitzt in Angola. Das Interesse des Westens an dem Eiland ist gering. Als Markt unerheblich (keine 100 000 Einwohner), als Rohstofflieferant nicht von Bedeutung – die Zeit ist lange vorüber, als São Tomé und Príncipe der größte Kakao-Produzent der Welt war. Und Öl gibt es keins. (Nach der Jahrtausendwende sollte welches entdeckt werden, worauf die Zuwendung auswärtiger Staaten auffällig zunahm.)

Ina Vogt, die noch nie die DDR verlassen hatte, ist von der Landschaft berauscht, von den Insulanern fasziniert – und gleichzeitig entsetzt von der Not und dem Elend, dem sie auf Schritt und Tritt begegnet. Ein Kulturschock. Es gibt keine Zeitung und keine Bücher, weil es auch keine Druckerei gibt. Strom fließt nur stundenweise, solange der Diesel für die Generatoren reicht. Es gibt einen Radiosender und eine Fernsehstation, die lediglich an den Wochenenden Filme aus der Konserve oder Reden des Präsidenten ausstrahlt. Dieser hat in Berlin studiert und an der Humboldt-Universität promoviert, wie auch nicht wenige Regierungskader eine Ausbildung in der DDR erfahren haben; etliche besuchten die FDJ-Jugendhochschule Bogensee.

Die junge Frau aus Europa führt Tagebuch. Es wird das Basismaterial für ein Buch, das erst jetzt geschrieben und veröffentlicht wurde. Dessen Wert erschöpft sich nicht darin, dass es die kaum vorhandene Literatur über dieses – nächst den Seychellen – kleinste Land Afrikas substanziell bereichert. Auch ist ihr Buch einer der wenigen Berichte über Einsätze von DDR-Bürgern, die nachhaltige Solidarität in der sogenannten Dritten Welt übten, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe leisteten. Insofern ist es auch ein DDR-Geschichtsbuch. Am wichtigsten aber scheint mir, dass die Autorin damit einen bemerkenswerten Beitrag zur aktuellen Debatte zum Kolonialismus liefert.

Ina Vogt entdeckte des Land und die baulichen und sonstigen Hinterlassenschaften der Kolonialherrschaft naiv, unwissend, unbedarft. Findet ein Denkmal, wo 1470 portugiesische Seefahrer erstmals das Eiland betraten, stößt auf Unstimmigkeiten bei den Angaben in zeitgenössischen Dokumenten und durchforstet zunehmend zielgerichteter historische Quellen in Archiven von Lissabon bis Dresden. Sie erkennt, dass die katholische Kirche nicht nur mit Kreuz und Schwert missionierte, sondern auch Geschichte im Wortsinne schrieb: Kolonialgeschichte aus Sicht der weißen Europäer – die Perspektive der unterworfenen Afrikaner kommt darin nicht vor. 

Die portugiesische Krone hatte zunächst wenig Interesse an einer Besiedlung der Inseln am Äquator; das Klima war für Europäer schwer erträglich. Man nutzte darum São Tomé und Príncipe als Sträflingskolonie – und zur Abschiebung von Juden. 2000 verbrachte man um 1500 dorthin, vornehmlich Kinder sephardischer Juden, die von Spanien nach Portugal getrieben worden und dort gleichfalls unerwünscht waren. Schon bald wurde die Kolonie Umschlagplatz für Sklaven, die hier versteigert und nach Amerika und Europa verschifft wurden, nachdem man sie zuvor auf dem afrikanischen Kontinent geraubt und verschleppt hatte.

Der Menschenhandel machte die portugiesische Kolonie São Tomé und Príncipe zu einer der reichsten der damaligen Welt. Als 1822 Brasilien unabhängig wurde und Portugal seine wichtigste Einnahmequelle in Übersee verlor, verlegte die Kolonialmacht die Kakaoplantagen auf den Archipel. Im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg erfuhr die dortige Kakaoproduktion ein Allzeithoch mit 36 500 Tonnen.

Die Europäer zerschlugen in 500 Jahren die in Afrika bestehenden Kulturen, raubten Menschen und Kunstwerke wie die Benin-Bronzen, mordeten Völker wie die Herero und Nama, ruinierten einen ganzen Kontinent in arroganter Anmaßung und blindwütigem Rassismus. Und als er ausgepresst und ausgezehrt war und die Unterdrückung zu teuer wurde, entließ man die Staaten in die Unabhängigkeit. Um sie alsbald wieder in andere Formen der Abhängigkeit zu bringen …

Ina Vogt ist vor Ort Zeugin, wie die Vergabe der Kredite von IWF und Weltbank an politische Zugeständnisse gebunden, die Landeswährung wiederholt abgewertet wird, wie Plantagen wieder privatisiert und Sozialleistungen gekürzt werden. Und die DDR? Sie tauschte Leistungen nicht gegen Devisen, sondern gegen Waren. Die Schiffe luden Kakao und kamen damit nur bis Rotterdam. Die Forderungen der Gläubiger im Westen mussten vorrangig bedient werden.

Ein lesenswertes, ein höchst aktuelles Buch.

Ina Vogt: Wege im Schatten der Kakaobäume.
Meine Zeit auf São Tomé und Príncipe 1986/89. Edition Ost, 340 S., br., 20 €.

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