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Kill your Darlings

Das menschliche Recht: Zwischen Klamauk und Tiefgang ist Michael Talkes Inszenierung der »Orestie« am Staatsschauspiel Dresden angesiedelt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
In Glitzertuniken gekleidet, gibt der antike Chor in dieser Inszenierung der »Orestie« ein komisches Bild ab.
In Glitzertuniken gekleidet, gibt der antike Chor in dieser Inszenierung der »Orestie« ein komisches Bild ab.

Ein Militärflugzeug leuchtet über der Bühne auf, denn es herrscht Krieg in Griechenland. Die Männer sind losgezogen, die geraubte Helena samt ihrer Ehre zurückzubringen. Menelaos’ Eigentum muss verteidigt werden, und bestenfalls akkumuliert sich auf dem Weg noch die eine oder andere Kleinigkeit. Zehn Kriegsjahre lang waltete und schaltete Klytaimestra derweil nach ihrem Belieben in der Stadt Argos, ungestört von Ehemann und Tochtermörder Agamemnon. Dann kehrt der Verhasste zurück, faselt von Ansehen und Schätzen, die der Völkermord gebracht habe.

»Helena, die dumme Sau!«, ruft sie aus. Immer sollen die Frauen die Schuld tragen am Krieg und am Opfermord an ihrer Tochter Iphigenie, während die Patriarchen nur auf Rohstoffe spekulieren. Jetzt erhebt sie die Axt! Und führt im blutroten Licht der Bühne den Rachereigen fort, der das Atriden-Geschlecht zusammenhält.

Gegen dicke Gummimasken anschreiend, klärt der Chor über die Vergangenheit auf: Zuerst zog Tantalos den Zorn der Götter auf sich, weil er seine Kinder an diese verfütterte. Die Freveltat besiegelte das Schicksal aller Nachkommenden, die sich von nun an gegenseitig zerhackten und ins Meer warfen. Als Deus ex machina tauchen die Götter in der griechischen Tragödie auf, verhängen hier einen generationenübergreifenden Fluch, verwandeln dort eine Frau in eine Kuh. Der heute für plötzliche Wendungen gebrauchte Ausdruck bezeichnete in der Antike eine Theatermaschinerie, die Götter von oben herab über Schauspieler und Publikum sprechen ließen. Ewige Gesetze und Frieden verspricht auch Athene, die im weißen Gewand vom Kran hängt, dem Volk Argos.

In Glitzertuniken gehüllt, gibt der Chor ein komisches Bild ab, wie er sich hoffnungsvoll, aber vergeblich der Funkeläugigen entgegenstreckt. Am Ende der Inszenierung der »Orestie« in der Regie von Michael Talke am Staatsschauspiel Dresden bleibt der Kran leer. Ein Umbruch vom göttlichen zum menschlichen Gesetz, von der Blutrache zur Rechtsprechung soll in Aischylos’ Tragödie vollzogen werden, der den Beginn der Demokratie markiert.

Doch vor dem ersten Gericht der Athener Bürger müssen noch einige Köpfe rollen. Auf die Rachetat der Klytaimestra erschlägt Orestes in Komplizenschaft mit Schwester Elektra seine Mutter und deren Partner Aigisthos. Die Axtschläge begleitet Johannes Mittl musikalisch und hebt mit Akkorden die klamaukigen Bewegungen der Wütenden hervor. Ausladende Gebärden und überzeichnete Charaktere ergeben in Verbindung mit der Klavieruntermalung das überzogene und unernste Gefühl eines Trickfilms. Klytaimestra und Aigisthos, dargestellt von den Schauspieler*innen Betty Freudenberg und Hans-Werner Leupelt, geben ein überzeugendes Supervillain-Paar, das sein Pathos stets selbst karikiert.

Die klare und prosaische Sprache in der Übersetzung von Peter Stein hilft der Aufführung, zwischen Schicksal und Familienmord ein Gefühl der Alltäglichkeit zu etablieren, wie es schon Regisseur Christopher Rüping in »Dionysos Stadt« auf die Spitze trieb, indem er die »Orestie« als Sitcom inszenierte. In diesem Stil greift die Inszenierung die vielen Fragen auf, wann ein Mann wie eine Frau handele und andersrum. Dass dabei auch thematisiert wird, wie eine Frau in der Antike handlungsfähig sein konnte, nämlich wenn sie als Mann agierte und damit Grenzen übertrat, geht im Lachen des Publikums meist unter.

Zweifelhafte Girlboss-Energy verströmt auch Elektra, die im Namen des Vaters Orestes dazu anstachelt, die Axt zu erheben. Von etwas träumend, das in der patriarchalen Gesellschaft nie eintreten kann, singt sie: »You should see me in a crown« (Du solltest mich mit einer Krone sehen) von Billie Eilish.

Die ersten zwei Drittel der Inszenierung ziehen sich mit einigen komischen Momenten dahin, bis Athene, gespielt von Katja Gaudard, endlich das Gericht eröffnet. Ihre Darstellung als uralte, nach Worten suchende Göttin, die in gebrechlicher Gestalt die Grenzen ihrer Macht erreicht hat, lässt das klamaukige Konzept an diesem Abend endlich aufgehen. Die tattrige Schutzherrin von Athen gibt ein letztes Mal ihre Stimme in den Topf, um Orestes freizusprechen, und begründet so als Göttin das menschliche Recht.

Nächste Vorstellungen: 18.11., 9. und 21.12.
www.staatsschauspiel-dresden.de

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