Eine Sprache in Zeiten der Sprachlosigkeit

Das Münchner Lenbachhaus richtet der libanesisch-amerikanischen Künstlerin Etel Adnan eine umfassende Retrospektive aus

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 4 Min.
Pulsierende Farbwelt: Ein unbetiteltes Gemälde Adnans aus dem Jahr 2020.
Pulsierende Farbwelt: Ein unbetiteltes Gemälde Adnans aus dem Jahr 2020.

Wenn die rote Sonne im blauen Meer versinkt, scheint die Welt auf eigentümliche Weise geordnet. Horizont und Wassersaum liegen dabei nahezu orthogonal zum senkrechten Rand der Leinwand. Auch die Sonne gehorcht dem Prinzip der Geometrie. Rechteckig rot sticht sie aus dem grünen Himmel hervor, ein Kontrapunkt zu dem leuchtenden Gelb des Strandes.

Wer die titellose Bildserie der libanesisch-amerikanischen Künstlerin Etel Adnan aus dem Jahr 2010 betrachtet, den überkommt ein heutzutage eher seltenes Gefühl. Die Bilder der vor einem Jahr im Alter von 96 Jahren verstorbenen Dichterin und Malerin strahlen Zuversicht aus, was angesichts der Ereignisse, die Adnans Leben prägten, erstaunlich sein mag. 1925 als Tochter einer griechischen Mutter und eines syrischen Vaters in Beirut geboren, bestimmte die Erfahrung des Exils – ihr Vater war als ehemaliger Offizier der Osmanischen Armee mit seiner Frau aus Smyrna (heute Izmir) in den Libanon geflohen – auch ihr eigenes Leben. Nach einem Literaturstudium in Beirut zog es sie 1949, vier Jahre nach der Unabhängigkeit des Libanon von Frankreich, nach Paris und später nach Kalifornien. Drei Orte, die fortan ihre geografischen und kulturellen Bezugspunkte bildeten, was Adnan, die mit Griechisch und Türkisch als Muttersprache in einer arabisch sowie französisch sprechenden Umwelt aufgewachsen war, zu einer Mittlerin zwischen den Welten machte.

Prägend für die Kunst von Etel Adnan, die mit Essays und Gedichten zunächst das Medium der Sprache wählte, waren die blutigen Konflikte in Nahost. Nach dem Algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954 bis 1962) entdeckte sie die Malerei für sich, um nicht länger auf Französisch, der Sprache der Kolonialmacht, schreiben zu müssen. Der libanesische Bürgerkrieg (1975 bis 1990) zwang sie in den 1970er Jahren nach einer kurzzeitigen Rückkehr nach Beirut erneut ins französische und US-amerikanische Exil. Zwei ihrer berühmtesten schriftstellerischen Werke entstanden: ihr Gedichtzyklus »Arabische Apokalypse« und ihr Roman »Sitt Marie Rose« über eine von den Phalangisten ermordete Freundin.

Wer die lange Rampe zum Kunstbau des Münchner Lenbachhauses hinunterschreitet, erlebt jedoch zunächst erst einmal dies: strahlendes Licht und vibrierende Farben! Es ist die erste umfassende Etel-Adnan-Retrospektive in Deutschland, die hier noch bis Ende Februar 2023 zu sehen sein wird, und das an einem Ort, der in seiner Ambivalenz passender nicht hätte sein können. Der langgestreckte, hallenartige Raum des Kunstbaus liegt unterirdisch zwischen zwei Etagen der U-Bahnstation Königsplatz, der einst den Nationalsozialisten als Repräsentationsgelände diente. Heute bildet der Platz mit der Glyptothek und den staatlichen Antikensammlungen einen Teil des Museumsquartiers Münchens. Während letztere jedoch sich architektonisch eher abschließen vor der Außenwelt, erlaubt der Kunstbau durch zwei große Fensterfronten an den Stirnseiten Blicke auf die zur U-Bahn hastenden Menschen. Kunst und Leben kommen hier wie zwei Energiefelder zusammen.

Adnans bildnerisches Schaffen, das erst mit ihrer Teilnahme an der Kasseler Kunstschau Documenta im Jahr 2012 internationale Bekanntheit erlangte, ist inspiriert von der abstrakten westlichen Malerei. Daher hängen auch ein paar Bilder von Wassily Kandinsky und Pau Klee in der Ausstellung. Aber braucht es wirklich diese Gewährs-Männer(!), um die Bilder dieser großartigen Künstlerin zu verorten? Ihre Werke jedenfalls sind viel mehr als ein Stil, viel mehr auch als eine bloße Verständigungsleistung zwischen westlicher und arabischer Welt. Sie zeigen in all ihrer farblichen Kraft, in ihren rauen, nahezu haptischen Texturen, in ihrer abstrakten Formenvielfalt, die islamische Ikonografien wie den Halbmond mit japanischen Faltheften, die dicken Pinselstriche der europäischen Expressionisten mit den zarten Linien arabischer Kalligrafie verbindet, eine beständige Auseinandersetzung mit dem Ausdruck. Schrift und Bild für sich genommen sind begrenzt. Erst in der Verbindung beginnen sie zu sprechen. Eine Sprache in Zeiten der Sprachlosigkeit.

Mit diesem Sprechenkönnen ist – trotz allem – der grundlegende Ausdruck beschrieben, der einen durch diese Ausstellung trägt. Der einen anleuchtet, anstrahlt, in Strukturen und Erzählungen verwickelt, in Farben und Formen förmlich hineinsaugt, ohne den Schrecken ihrer Entstehung zu übermalen. Die rote Sonne und der grüne Himmel – es könnten in dieser Grundfarbenklarheit auch Flaggen sein, deren Farben nationale, geografische, ideologische Programme symbolisieren und damit jederzeit das Potenzial für Konflikte bergen. Wer so klare Grenzen zieht, ist gefährdet – oder gefährlich.

Es war der 12. Januar 2015, als ich selbst das letzte Mal mit Etel Adnan sprach. Eine Woche zuvor hatten islamistische Terroristen die Redaktionsräume der französischen Satire-Zeitschrift »Charlie Hebdo« überfallen und zwölf Menschen getötet. Auch in Berlin stand vor den Zeitungsredaktionen Polizei, die Angst hatte alle gelähmt. Ich kann mich noch gut an die sanfte, warme Stimme von Etel Adnan erinnern, wie sie am Telefon auf den »Marsch der Millionen« in Paris verwies, auf die große Solidarität über alle religiösen Zugehörigkeiten hinweg, aber auch gemahnte, die Pariser Vorstädte nicht aus den Augen zu verlieren. Ihre bevorzugte Anrede »my dear« klang aus dem Mund der damals 84-Jährigen so, als könne die Welt es – trotz allem – noch irgendwie schaffen, sich zu retten.

»Etel Adnan«, bis zum 26. Februar, Lenbachhaus, München

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