Wahl-Urteil »ist schon überraschend«

Politikwissenschaftler Arndt Leininger sieht gute Argumente für eine komplette Wahlwiederholung in Berlin, aber auch Herausforderungen

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 4 Min.

Herr Leininger, das Berliner Landesverfassungsgericht hat entschieden, dass die komplette Landtagswahl in der Hauptstadt wiederholt werden muss. Ein nachvollziehbares Urteil?

Es ist schon überraschend, weil wir das in Deutschland so noch nie hatten. Es gab einmal eine komplette Wahlwiederholung in Hamburg 1993. Der Grund dafür war, dass die CDU ihre Liste zur Bürgerschaftswahl 1991 fehlerhaft aufgestellt hatte. Davon war damals natürlich jeder Wähler betroffen, deshalb musste man die Wahl in Gänze wiederholen. Dass man aber in Berlin jetzt zu der Einschätzung kommt, dass der Wahlprozess an und für sich fehlerhaft war, ist neu. Bisher waren einzelne Fehler immer über eine Teilwiederholung gelöst worden, wie es auch der Bundestag vorsieht mit Blick auf die Bundestagswahl.

Interview

Arndt Leininger ist Juniorprofessor für Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden an der Technischen Universität in Chemnitz. Er beschäftigt sich beispielsweise mit direkter Demokratie, Wahlbeteiligung, Jugend in der Politik und Wahlprognosen. Nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichts Berlin sprach Max Zeising mit dem Wissenschaftler.

Welche Vorteile hat eine komplette Wiederholung?

Wenn man einzelne Wählende in Kenntnis eines zu guten Teilen feststehenden Gesamtergebnisses neu wählen lassen würde, wäre das eine seltsame und demokratietheoretisch unschöne Situation. Wir sprechen immer vom Grundsatz der Wahlgleichheit. Wenn man die einen auffordert, noch einmal zu wählen, und die anderen nicht, dann können sich die Parteien schön ausrechnen, wo sich politische Mehrheiten noch einmal verändern lassen. Ein solches Szenario setzt Anreize, nur in einzelnen Teilen der Stadt Wahlkampf zu machen. Das hat leichte Anklänge von einem US-amerikanischen Wahlkampf, in dem die Swing States (diejenigen US-Staaten, in denen weder die republikanische noch die demokratische Partei eine sichere Mehrheit erreicht, d. Red.) viel Aufmerksamkeit erhalten.

Welche Schwierigkeiten sehen Sie?

Natürlich ist es problematisch, wenn nun auch in Wahllokalen, in denen die Landtagswahl fehlerfrei verlief, die Wähler erneut an die Urnen geschickt werden. Zudem stellt das Urteil die Parteien vor große Herausforderungen. Sie müssen nun innerhalb kurzer Zeit einen Wahlkampf gestalten. Die Frage ist: Können sie die Wähler genauso mobilisieren wie 2021 oder bei einer normalen Landtagswahl? Auch die Verwaltung steht vor der Herausforderung, jetzt endlich eine fehlerfreie Wahl zu organisieren.

Viele Menschen in Deutschland machen sich aktuell Sorgen um den Krieg in der Ukraine, die hohen Energie- und Lebensmittelpreise und den Klimawandel. Welchen Stellenwert hat eine solche Wahlpanne im Vergleich zu den Krisenphänomenen unserer Zeit?

Ich würde das nicht gegeneinander abwägen. Vielmehr bieten die Wahlen der Bevölkerung eine Gelegenheit, diese Problemlagen über ihre Stimmen an die Parteien zu kommunizieren. Und den Parteien die Möglichkeit, ihre Lösungsvorschläge zumindest auf Landesebene vorzustellen.

Experten sprechen, gerade auch mit Blick auf die politischen Entwicklungen in den USA, von einem fragilen Zustand der Demokratie. Auch hierzulande versuchen rechte Kräfte, Profit aus der Krise zu schlagen und die Demokratie anzugreifen. Stellt eine solche Wahlpanne einen Angriffspunkt für Rechte dar?

Dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, der demokratische Normen und Prinzipien ablehnt, beschäftigt uns schon lange. Neu ist, dass es in Deutschland mit der AfD eine Partei gibt, die diesen Teil der Bevölkerung sehr aktiv bedient. Ansonsten ist unsere Demokratie aber deutlich gefestigter als beispielsweise momentan die US-amerikanische. Wir müssen uns nicht ganz so große Sorgen machen. Ich sehe wenig Gefahr, dass jenseits der AfD von politischer Seite die Verfasstheit unseres Staates und die Fairness der Wahlen infrage gestellt werden. Das ist in den USA ein ganz massives Problem.

Sie sprechen über Ex-Präsident Donald Trump und die Mär einer »gestohlenen Wahl«.

Der ist nur die Spitze des Eisberges. Das große Problem in den USA ist, dass es bis weit in die republikanische Partei verbreitet und akzeptiert ist, grundsätzliche demokratische Normen in Frage und abgelaufene Wahlen in Abrede zu stellen. Das ist brandgefährlich. Aber davon sehe ich Deutschland noch weit entfernt.

Zurück nach Berlin. Nach einer aktuellen Umfrage könnte es zu einem Dreikampf zwischen SPD, Grüne und CDU um den Wahlsieg kommen. Für wen steht jetzt was auf dem Spiel?

Für die SPD steht die Führung des Senats auf dem Spiel, an die man sich gewöhnt hat und die man nur ungern abgeben möchte. Auch nicht an eine Partei wie die Grünen, die ihr inhaltlich in vielen Punkten nahesteht. Das war schon eine Gefahr bei der vergangenen Wahl. Jetzt ist die Frage, wie sehr politisiert wird, dass der für diese Wahl zuständige damalige Innensenator Andreas Geisel ein Sozialdemokrat ist. Viel wird zudem davon abhängen, wie mobilisierungsfähig die Parteien sein werden. In dieser Frage unterscheiden sich die Milieus. Das Grünen-Milieu hat eine höhere Bereitschaft, an einer Wahl teilzunehmen, wann immer dazu aufgerufen wird, auch wenn es eine Wiederholungswahl im kalten Februar ist. Von daher würde ich die Grünen etwas im Vorteil sehen.

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