Die Stegreifdichterin

Vor 300 Jahren wurde Anna Louisa Karsch, Deutschlands erste Berufsschriftstellerin, geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war schon dunkel, als sie nach Hause kam und ein »Briefchen« vorfand. »Der mildselige Mond«, schrieb sie 1775, »schien nicht in meine Kammer, sonst hätte ich’s gelesen.« Wer der Absender war, wusste sie nicht, »aber mein Pulsschlag sagte mir’s, daß eine feine, gute, liebe Seele mich grüßen würde«. Weil sie die Kinder nicht stören wollte, legte sie sich jedoch schlafen und sah erst am nächsten Tag »beim ersten Sonneglanz«, wer an sie gedacht hatte. 

»Lieber Goethe«, schrieb sie nun, »lassen Sie sich’s Ihr Herz sagen, wie mir’s gefiel, dass Sie so ohne Zier, so von Herzen geradweg mich grüßen …« Er hatte sie gebeten, ihn weiter mit ihrer Kunst zu erfreuen: »Schicken Sie mir doch auch manchmal was aus dem Stegreife, mir ist alles lieb u. werth was treu u. starck aus dem Herzen kommt, mag’s übrigens aussehn wie ein Igel oder wie ein Amor.«

Für Momente trafen sich hier zwei Dichter, die unterschiedlicher nicht sein konnten: der eine aus begütertem Haus und mit 25 Jahren schon ein Weltautor, die andere, Anna Louisa Karsch, geboren am 1. Dezember 1722, eine Poetin, die sich aus tiefster Armut ins Licht gekämpft hatte und nun die Erste in Deutschland war, die von ihren Versen leben konnte. Als Wunder bestaunt, geachtet, populär, gefeiert, von anderen, Lessing voran, ignoriert, weil sie sich nicht an die üblichen Dichtmuster hielt. Später zwar nie ganz vergessen, immer mal wieder gedruckt, wurde sie allmählich eine Unbekannte, von der viele allenfalls den Namen kennen. 

Lange war Gerhard Wolfs Vers- und Briefauswahl im »Märkischen Dichtergarten« (1981) die einzige Möglichkeit, sich ein Bild von ihr zu machen, doch das ändert sich allmählich. Seit geraumer Zeit gibt es, zu danken vor allem dem Gleimhaus in Halberstadt und dem Wallstein-Verlag in Göttingen, energische Initiativen, Dichter der vorklassischen Epoche in modernen Ausgaben zugänglich zu machen – auch die Karschin. Das begann mit ihrer zweibändigen Gleim-Korrespondenz, einem der wichtigsten Briefwechsel des 18. Jahrhunderts, wurde mit den »Sapphischen Liedern« fortgesetzt. 

Nun, zum 300. Geburtstag, kommt aus dem Hause Wallstein ein akribisch edierter und fantastisch kommentierter Band mit Gedichten und Briefen, begleitet vom Katalog der Ausstellung, die zum Jubiläum im Gleimhaus eröffnet wird und unter dem Titel »Plötzlich Poetin!?« in Leben und Werk einführt. In dem Begleitbuch ist neben mehreren Aufsätzen zum Werk erstmals ausgebreitet, was man in diesem Umfang und dieser Qualität noch nicht sah: Porträts der Karschin, ihrer Zeitgenossen, Manuskriptseiten, Gedichte, Briefe, Titelblätter, Zeichnungen, Radierungen, Kupferstiche, der Entwurf eines Testaments von 1788, die Ansicht ihres Hauses in Berlin, das nicht mehr existiert. Ergänzt werden die beiden druckfrischen Bände vom neuen Frankfurter Buntbuch, einer bemerkenswerten literarischen Studie von Annett Gröschner, die detailliert den Berliner Spaziergängen der Karschin folgt. Diese 30 Seiten bieten den denkbar besten Zugang zur Dichterin und ihrer Stadt. 

»Man hat bey meiner Wiege weder von Ahnen noch von Reichthumern gesungen«: Mit diesem Satz eröffnete die Karschin 1762 ein langes Schreiben an den Schweizer Philosophie- und Ästhetikprofessor Sulzer, das breit ihre Lebensgeschichte erzählte. Da war sie beinahe 40. Hinter ihr lagen bittere Jahre in der Meierei des Vaters, der bald starb, der Hunger, das Frieren, die unendlichen Monate, in denen sie morgens die Kühe auf die Weide treiben musste, eine Zeit ohne Mutterliebe und »ohne mir meines Daseins bewußt zu sein«. Sie war zehn, als ein Onkel, ein Amtmann, sie mit in sein kleines Haus nach Polen nahm und ihr Lesen und Schreiben beibrachte. Zum ersten Mal sah sie Bücher. Sie wurden ihre »einzige Zuflucht«. »Sie las keine Bücher«, meinte der Berliner Dichter Karl Wilhelm Ramler, »sie verschlang sie.« 

Jahre danach, mit 16, wurde sie mit einem Tuchmacher und -händler verheiratet. Es folgten drei Geburten, 1745 die Trennung mit der ersten Ehescheidung in Preußen, eine zweite Ehe, diesmal mit dem Schneider Daniel Karsch, einem Säufer, den sie bald hasste, weil er die Familie ins tiefste Elend stürzte. Aber nun wehrte sie sich. Sie konnte ja schreiben, konnte sogar ohne besondere Mühe Gedichte verfassen, im Nu aufs Papier gebracht, heimlich, damit es der Mann nicht merkte, Strophen zu Taufen, Geburtstagen, Hochzeitsfeiern oder Beisetzungen. »Ich ergriff jede Gelegenheit«, schrieb sie, »Verse zu machen.« Adlige und Bürger gaben sie bei ihr für ein bescheidenes Salär in Auftrag. Ihr erstes Honorar war ein dringend benötigter Rock.

Die poetischen Anfänge der Karschin kennen wir nicht. Keines ihrer frühen Gedichte ist überliefert. Dass später alles, was sie schrieb, Verse und Briefe, gesammelt wurde, ist vor allem ihrem Halberstädter Bewunderer, Freund, Ermunterer und Förderer Gleim zu danken. Aus seinem großartigen Fundus schöpft die Ausstellung genauso wie der Band mit ihren Briefen und Gedichten, der sich strikt an die originale, zuweilen chaotische Orthografie der Karschin hält und ihr eigenwilliges, kraftvolles, unorthodoxes Schreiben authentisch dokumentiert. Hier sieht man, was für eine wundervolle Briefschreiberin sie war, wie sie immer wieder ins Erzählen kam, einfach drauflos redete, unverstellt, impulsiv, farbig, und wie sie gern von der Prosa ins Lyrische wechselte und den Adressaten mit langen Gedichten überraschte. 

Ihre Verse sind wie die Briefe. Sie wissen nichts von Formstrenge und ästhetischen Kniffen, halten fest, was der Augenblick, die Inspiration beschert, vertrauen ganz der Empfindung und waren auch nicht, wie die Karschin bekannte, für die Ewigkeit gemacht. Eine »rührende Bittschrift«, die aus dem Herzen fließt und »an fremdem Kummer eignen Anteil nimmt«, erfuhr Goethe von ihr im Brief von 1775, »macht mir mehr warm als dem ewigen Milton sein vollendetes Heldengedicht gemacht haben mag«.

Aus der bettelarmen Karschin ist bald eine Dichterin geworden, die es lernte, sich durchzusetzen, erst gegen den trunksüchtigen Mann, dann gegen ihre Kritiker, die bemängelten, dass sie sich nicht an die bestehenden Muster hielt, dass sie so spontan war und sich wenig sorgte, wenn es in ihren Gedichten spürbar holperte. Die Gelegenheitsarbeiten, schrieb sie am Ende ihres Lebens, »brachten zwar wenig Dichterehre, brachten aber brodt«. Und in ein Stammbuch schrieb sie: »Ich drang durch Tausend Hinderniße / und lies nicht eher ab / bis mir der Ausgang Ehre gab.« 1755 erschienen auf losen Blättern ihre ersten Gedichte, 1764 publizierten Gleim und Sulzer die erste Sammlung ihrer Verse. Seit 1761 lebte sie in Berlin, wo sie anfing »zu schmeken was Leben sey«. 

1763 schließlich das lang ersehnte Ereignis: ein Gespräch mit Preußens König. Sie hatte seine Siege im Siebenjährigen Krieg besungen und wurde nun endlich empfangen. Friedrich II., so hat sie geschildert, mochte es nicht glauben: »Sie hatte, sagt man, niemals Unterweisung? Niemals, Ihro Majestät, meine Erziehung war die schlechteste!« Er zweifelte: Und woher kannte sie die Regeln? »Ich weiß von keinen Regeln«, erwiderte sie, aber sie beobachte das Metrum nach Gehör. Friedrich war, obwohl ihn deutsche Literatur nicht interessierte, beeindruckt, versprach, für sie zu sorgen, versprach ihr sogar ein Haus, doch vergaß es gleich wieder. 

1773 brachte sie sich in Erinnerung. Mehr als ein »Gnadengeschenk von zwey Talern« wollte Preußens Herrscher aber nicht spendieren. Die Karschin antwortete selbstbewusst in Versen: »Zwoo Thaler giebt kein großer König, / Denn die vergrößern nicht mein Glük, / Nein Sie erniedern mich ein wenig, / Drumm geb ich sie zurük.« Zehn Jahre danach ein weiterer Versuch, zu einem Haus zu kommen. Diesmal schickte ihr der Hof drei Taler. Erst im Januar 1787, ein halbes Jahr nach Friedrichs Tod, erhielt sie von Friedrich Wilhelm II., seinem Nachfolger, ein Haus am Hackeschen Markt.

Dort ist die Karschin am 12. Dezember 1791 gestorben. Bestattet wurde sie in unmittelbarer Nähe auf dem Sophienfriedhof. Gleim stiftete 1802 eine Gedenktafel, die noch immer zwischen zwei Fenstern an der Seitenfassade der Sophienkirche zu sehen ist: »Hier ruht / Anna Louisa Karschin / Gebohrne Dürbach / Kennst du Wandrer! sie nicht, / So lerne sie kennen.«

Anna Louisa Karsch: Briefe und Gedichte, hg. von Claudia Brandt und Ute Pott. Wallstein-Verlag, 416 S., geb., 34 €
Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk, hg. von Ute Pott. Wallstein-Verlag, 289 S., geb., 24 €
Annett Gröschner: „Die Spazier-Gaenge von Berlin». Anna Louisa Karsch. Verlag für Berlin-Brandenburg, 30 S., br., 8 €.

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