Die Pattex-Terroristen

Früher musste man noch Bomben legen, um als radikal zu gelten. Jetzt reicht eine Tube Klebstoff, kommentiert Sheila Mysorekar

Offensichtlich treffen die Proteste der jungen Klimaaktivist*innen den zentralen Nerv der deutschen Gesellschaft, sozusagen das Innerste der deutschen Identität: den Autoverkehr.

Hier eine Erklärung für außerirdische Besucher: Die Mitglieder der »Letzten Generation« haben keineswegs Parkhäuser angezündet oder Autobahnen kaputt gebombt. Sie haben sich lediglich mit Klebstoff auf Straßen festgeklebt und den Verkehr behindert. Sie haben sich auch mal in einer Philharmonie festgeklebt. Man kann in Deutschland weiterhin Auto fahren. Und auch ins Konzert gehen.

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 180 postmigrantischen Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Medienkolumne »Schwarz auf Weiß«.

Die Überschriften verbreiten jedoch Panik: »Die ›Letzte Generation‹ wird von Tag zu Tag gefährlicher« (»Die Welt«) – »Die Aktionen tragen zunehmend terroristische Züge« (ebenfalls »Die Welt«) – »Radikal und umstritten« (»Tagesschau«) – »Klima-Radikale« (»Bild-Zeitung«). Aber auch Kommentare, die die Aktionen der »Letzten Generation« befürworten, kommen ohne dieses Adjektiv nicht aus, wie etwa in der »Frankfurter Rundschau«: »Radikal richtig«.

Man könne diesen Radikalen nur »radikale Mittel« entgegensetzen, so wird das umstrittene bayrische Unterbindungsgewahrsam in der Zeitung »Die Welt« gerechtfertigt. Unterbindungsgewahrsam, das klingt so schön vernünftig und staatstragend, ist aber tatsächlich Präventivhaft, also Vorbeuge-Knast, bevor überhaupt ein Gesetz gebrochen wurde. Auf Ist-noch-gar-nichts-passiert steht in Bayern 30 Tage Gefängnis.

Eigentlich könnte man jetzt auch CSU-Politiker präventiv in Haft stecken, für den Fall, dass sie korrupt werden. Was ja recht wahrscheinlich ist.

Aber nein, das ist ja nur für junge Leute gedacht, die nicht auf einem brennenden Planeten einen Überlebenskampf um die letzten Wasserquellen führen wollen. Und deswegen für ein paar Stunden den Autoverkehr stören. Wirklich radikal, diese allerletzte Generation.

Die Journalist*innen, die ihre Texte mit Vokabeln wie »Terror« und »radikal« spicken, sollten mal »Radikalenerlass« googlen: Ab 1972 wurden in Westdeutschland alle Menschen, die sich auf eine Stelle im Öffentlichen Dienst bewarben, auf ihre Gesinnung überprüft, um Verfassungsfeinde schon im Vorfeld auszuschließen. In der Praxis führte der Radikalenerlass dazu, dass vor allem linke Lehrer*innen ihren Beruf nicht mehr ausüben durften. Manche Fälle landeten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und die Bundesrepublik wurde zu Schadensersatz verurteilt. 1985 wurde der Radikalenerlass abgeschafft; seitdem gibt es Kommissionen zur Rehabilitierung der damals als »radikal« eingestuften und mit Berufsverbot belegten Beamt*innen. Mit anderen Worten: es handelte sich um eine jahrzehntelange Kriminalisierung unschuldiger Menschen.

Jetzt stehen wir vor einem ähnlich idiotischen Schritt in der Politik: Die Innenminister der Länder diskutieren ernsthaft darüber, ob die »Letzte Generation« als kriminelle Vereinigung eingestuft werden soll. Also auf einer Stufe mit der Mafia. Ein paar Teenies mit Klebstoff-Tuben bekämen dann ruckzuck den Status, den sich jeder Mafioso mit Auftragsmorden erst hart erarbeiten muss.

In den Medien wird diese neue Eskalationsstufe seitens der Politik kaum eingeordnet. Nur wenige zeigen die Konsequenzen auf, wenn die »Letzte Generation« tatsächlich als kriminelle Vereinigung eingestuft würde: beispielsweise muss das gesamte Umfeld einer solchen Gruppierung beobachtet werden. So erwähnte die »Süddeutsche Zeitung«, dass die Synode der Evangelischen Kirche die Aktionen der Klimaaktivist*innen unterstützt. Das wird ja spannend, wenn der Verfassungsschutz die Pfarrer abhört.

Was die Medien der vorletzten Generation nicht schreiben: Dafür, dass die Lage wirklich dramatisch ist, sind die Klimaaktivist*innen bei weitem nicht radikal genug. Noch ein paar Jahrzehnte, und es wird Bremen, Bremerhaven und weite Teile Hamburgs nicht mehr geben. Die Nordseeinseln sind dann überflutet, und 17 Millionen Holländer werden zu uns flüchten. Weil die Niederlande dann komplett unter Wasser stehen.

Irgendwann werden verzweifelte junge Leute möglicherweise zu anderen Mitteln greifen: Kohlekraftwerke sprengen, Ölpipelines sabotieren, Raffinerien in die Luft jagen. Um den Planeten und uns alle zu retten. Das wäre in der Tat radikal.

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