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Bis das letzte Licht ausgeht

Im Krieg leidet die ukrainische Bahn und fährt auf Verschleiß. Aber noch fährt sie

  • Volodya Vagner
  • Lesedauer: 8 Min.
Auch wenn der Lokführer Andrej an diesem Tag auf offener Strecke liegen bleibt: Die ukrainische Bahn fährt trotz der russischen Bombardements noch immer und sorgt für Mobilität im Land.
Auch wenn der Lokführer Andrej an diesem Tag auf offener Strecke liegen bleibt: Die ukrainische Bahn fährt trotz der russischen Bombardements noch immer und sorgt für Mobilität im Land.

»Warnung, Fliegeralarm!«, sagt die Frauenstimme der offiziellen ukrainischen Luftschutz-App, während das Handy heult wie eine Sirene. Das Programm fordert Nutzerinnen und Nutzer dazu auf, sich in die Bunker zu begeben. Auf der eingebauten Übersichtskarte ist mal wieder die gesamte Ukraine rot eingefärbt, mit Ausnahme der besetzten Halbinsel Krim, und die kleinen Symbole, die Einschläge symbolisieren, kommen Kiew langsam näher. Abermals hageln heute russische Marschflugkörper auf das Land herab.

Aleksandr Skyba und seine beiden Kollegen Andrej und Ihor, die lieber nur den Vornamen nennen wollen, können allerdings nicht in den Bunker. Die drei Männer sind Lokführer und befinden sich gerade in der Fahrerkabine einer olivgrünen Lokomotive des Typs WL 80. Sie fahren heute einen Güterzug aus dem im Ostkiewer Stadtteil Darnyzja gelegenen Güterdepot in das rund 30 Kilometer entfernte Boryspil. Die Züge müssen nach Fahrplan rollen, Krieg hin oder her.

Dass sich das Land im Ausnahmezustand befindet, ist vielerorts sichtbar. »Guck mal da, Schützengräben«, sagt der lebhafte Andrej und zeigt in die schneebedeckte Waldlandschaft, die draußen gemächlich vorbeizieht. »Die haben unsere Truppen zur Verteidigung ausgegraben, als sich die Russen der Stadt näherten«, erklärt er.

Wladimir Putins groß angelegter Eroberungskrieg gegen die Ukraine zieht sich inzwischen fast ein Jahr hin. Nicht zuletzt für die Beschäftigten der ukrainischen Staatsbahn Ukrsalisnyzja hat er viel verändert. Besonders die ersten, chaotischen Kriegswochen, als hier im Wald hastig die Verteidigungsanlagen errichtet wurden, waren dramatisch.

»Ich hatte Anfang März mal eine 28-Stunden-Schicht«, erzählt Aleksandr Skyba. »Stell dir das mal vor, mehr als einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in der Fahrerkabine.« Skyba wohnte damals eine Zeit lang in einem der Wohnheime der Bahn, die im Normalfall auswärtigem Personal zur Übernachtung dienen. »In der Nähe unseres Wohnbezirks waren Artillerieposten stationiert. Angesichts des Risikos, von den Russen ins Visier genommen zu werden, kam es mir sicherer vor, erst mal eine Weile nicht zu Hause zu sein«, erklärt er. Skybas Frau und ihr Sohn waren damals nach Polen geflohen.

Ein anderer Lokführer vom Güterdepot Darnyzja, mit dem Skyba, Andrej und Ihor vor der Abfahrt kurz geplaudert hatten, war in jenen ersten Kriegstagen in seiner Lok fast zu Tode gekommen. »Das war noch im Februar, und Sascha war in der Nähe des Kiewer Passagierbahnhofs unterwegs, als einer dieser Sabotageverbände, die zu dem Zeitpunkt die Stadt unsicher machten, seine Fahrerkabine beschoss. Es war ein Wunder, dass er nicht getroffen wurde und mit dem Leben davonkam«, erzählt Andrej mit hochgezogenen Augenbrauen.

Andere Kollegen hatten weniger Glück. Berichten zufolge sollen seit Februar mindestens 19 Eisenbahner durch Kriegshandlungen, etwa die Bombardierung der Bahnhöfe Kramatorsk und Tschaplyne, ums Leben gekommen sein.

Obwohl es den ukrainischen Streitkräften seitdem gelungen ist, die Front weit von Kiew wegzudrücken, ist der Alltag der Lokführer trotzdem vom Krieg geprägt. Nicht zuletzt finanziell ist die Lage schwer. Da die Grenzen zu Belarus und Russland geschlossen, die ukrainischen Häfen größtenteils blockiert und viele Industriestandorte des Landes durch den Krieg lahmgelegt sind, läuft der Güterverkehr zurzeit auf Sparflamme. Der Transport von Kriegsgerät oder temporären Behausungen für Inlandsflüchtlinge wiegt diesen Auftragseinbruch bei Weitem nicht auf.

In dem Distrikt, zu dem die Eisenbahner vom Darnyzja-Depot gehören, wird im Moment nur ein Drittel so viel gefahren wie üblich. »Normalerweise fährst du so ziemlich jeden Tag, jetzt aber eher jeden dritten«, erklärt Andrej. Da ein bedeutender Teil des Lokführerlohns aus Zuschüssen für Nacht- und Wochenendfahrten besteht, bedeuten weniger Fahrten weniger Einkommen. »Vor dem Einmarsch habe ich in der Regel um die 17 000 Hrywnja (440 Euro) netto im Monat verdient, jetzt sind es um die 13 000 (335 Euro)«, fügt Skyba hinzu. Die Lebenshaltungskosten sind in derselben Zeit dagegen in die Höhe geschossen.

Trotzdem betrachten sich die Männer im Vergleich zu anderen Menschen als relativ privilegiert. Viele andere sind durch den Krieg arbeitslos geworden, und auch wenn die Lokführer inzwischen weniger verdienen, zahlt Ukrsalisnyzja den Lohn bisher immerhin pünktlich aus.

Ohnehin können die Eisenbahner im Moment nur wenig tun, um ihre Situation zu verbessern. Das ist besonders Aleksandr Skyba bewusst. Er ist heute eigentlich gar nicht im Dienst, aber als Vorsitzender der örtlichen Abteilung der Freien Bahnarbeitergewerkschaft, WPZU, kann er, wenn er mit Kollegen plaudern will, diese auf ihrer Schicht begleiten. Von den rund 700 beim Darnyzja-Depot Angestellten sind etwa 60 Mitglieder in der WPZU, hauptsächlich Lokführer. Die meisten anderen Kollegen, darunter auch Andrej und Ihor, gehören zur Eisenbahn- und Transportbauarbeitergewerkschaft der Ukraine, PZTBU.

Diese Erbin der früheren sowjetischen Gewerkschaftsstruktur, die landesweit etwa 170 000 Mitglieder vereint, ist laut Skyba allerdings zahnlos und im Grunde ein verlängerter Arm der Firmenleitung. Skybas WPZU zählte landesweit zwar nur um die 50 000 Genossen und Genossinnen, sei aber schlagkräftig, und bei von ihr organisierten Protestaktionen hätten sich früher oft auch Nichtmitglieder angeschlossen.

Jetzt im Krieg sind Streiks verboten. Selbst die WPZU ist gezwungen, stillzuhalten. »Unsere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, sind gerade stark beschränkt. Wo wir sonst schon durch die Drohung, in den Streik zu treten, Druck ausüben konnten, ist das jetzt nicht möglich. Das ist ein schwerer Schlag für uns als Gewerkschaft«, erklärt Skyba. Und dies, obwohl die Eisenbahner gerade jetzt vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen stehen.

Etwa der Mangel an Ersatzteilen. Die WL 80-Lokomotive, mit der Skyba, Andrej und Ihor heute unterwegs sind, stammt noch aus sowjetischer Produktion – die Abkürzung steht für Wladimir Lenin, nach dem die Lok benannt ist –, und die Maschine ist älter als die Männer selbst. Von dem guten Dutzend Warnlampen im Schaltpult leuchten schon mehrere nicht mehr. »Die kommen aus der Konstantinow-Fabrik im Donbass«, erklärt der eher schweigsame Ihor. Der Betrieb liegt nur wenige Kilometer entfernt von der umkämpften Stadt Bachmut, längst wurde die Produktion dort eingestellt. »Dass viele dieser Lämpchen nicht mehr funktionieren, ist ein ernstes Sicherheitsproblem«, fügt Andrej hinzu.

Abgesehen von solchen direkten Kriegsfolgen seien die Interessen der Eisenbahner durch eine Sparpolitik bedroht, die Politiker schon vor Kriegsbeginn betrieben hätten, erzählt Skyba. Ukrsalisnyzja habe beispielsweise einst über ein noch aus Sowjetzeiten stammendes eigenes Netz an Gesundheitseinrichtungen verfügt. »Inzwischen sind die meisten dieser Kliniken aber geschlossen worden, die übrigen sind unterfinanziert«, kritisiert er.

Der Güterzug ist inzwischen in Boryspil angekommen. Ihor klettert runter auf den Bahndamm und koppelt die Lokomotive von den Waggons ab. Andrej fährt die Lok ein Stück nach vorn und anschließend auf ein Nebengleis. Dann prüft er, ob die Bremsen funktionieren: »Bei jedem Kabinenwechsel ist Sicherheitskontrolle, das ist Vorschrift«, erklärt er. Es ist Zeit, sich in die Fahrerkabine am anderen Ende der Lok zu begeben und die Rückfahrt anzutreten.

Das trübe Winterlicht wird langsam immer schwächer, und der rote Schein der Signale entlang der Gleise tritt immer deutlicher hervor. Auf Telegram zirkulieren Nachrichten, wonach in Kiew Marschflugkörper eingeschlagen sein sollen. Ihor scrollt durch die neuesten Berichte in Nachrichtenkanälen, denen er auf Telegram folgt, und murmelt: »Einschläge in mehreren Bezirken der Hauptstadt …« – »Echt?«, fragt Andrej aufgeregt, mit Blick nach vorn auf die Gleise. »Ja«, antwortet Ihor, und liest weiter: »… auf Objekte der Infrastruktur.« In einem Video sieht man aufsteigenden Rauch, und Ihor versucht den Einschlagsort zu deuten: »Das hier ist doch der Auchan-Supermarkt, also irgendwie hinter diesen Wohnhäusern.« Das Handynetz wird immer unzuverlässiger. Andrej gelingt es kaum, zu seiner Frau durchzukommen.

Seit dem Herbst hat es das russische Militär vermehrt auf die zivile Infrastruktur der Ukraine abgesehen. Das Stromnetz des Landes ist inzwischen großflächig beschädigt. In den meisten Landesteilen ist der Strom rationiert, die Versorgung auf bestimmte Tageszeiten beschränkt.

Auch der Großteil von Ukrsalisnyzjas Lokomotivflotte, darunter die WL 80, wird elektrisch betrieben. »Die Bahn wird aber immer versorgt, selbst wenn ringsherum alles finster ist. Uns werden sie die letzten Reserven noch zuteilen«, versichert Andrej. Selbst wenn das schlimmste vorstellbare Szenario eintreten und das Stromnetz komplett zusammenbrechen würde, seien sie trotzdem in der Lage, ihren Auftrag auszuführen. Es gebe nämlich dieselbetriebene Reserveloks. Selbst wenn die Bahnsignale nicht mehr leuchten würden, könnte der Bahnverkehr mithilfe eines komplizierten vorprogrammierten Notfallplans weitergeführt werden.

Kurze Zeit später knistert es im Funkgerät. Die Kollegin am anderen Ende erklärt, dass eine Teilstrecke ein Stück voraus die Spannung verloren habe. Schon bald verliert die Lok an Fahrt, wird immer langsamer und kommt schließlich zum Stillstand. Das kontinuierliche Ticken des mechanischen Tachos hört auf, es wird still. Unter Fluchen stellen Andrej und Ihor fest, dass sie von hier erst mal nicht so schnell wegkommen und ziehen vorschriftsgemäß die Handbremse an.

Das Mobilfunknetz ist inzwischen komplett ausgefallen. In einer Kontrollstation entlang der Bahnstrecke, etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt, erfährt Skyba von den dortigen Kollegen, dass in ganz Kiew der Strom ausgefallen ist, nachdem ein russischer Marschflugkörper in eine Transformatorenstation eingeschlagen war. Während der Wald langsam in der Dunkelheit verschwindet, organisiert er über das Festnetz der Kollegen eine Mitfahrgelegenheit zurück in die Stadt. Andrej und Ihor aber müssen in ihrer Lok bleiben, bis der Strom zurückkommt. Erst, wenn die Lok wieder zurück im Depot ist, haben sie Feierabend. Wie lange das dauern wird, ist ungewiss.

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