Sag mir, wo die Gegenwart ist

Die einen schwärmen vom Gestern, die anderen zittern vor der Zukunft – wie konnte es so weit kommen?

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Ob Klima, Wirtschaft oder Weltfrieden – beim Gedanken an morgen will Optimismus nicht so recht aufkommen. Das war mal anders. Damals, nach dem bestialischsten Krieg der Menschheitsgeschichte. 1945 gab es keinen Abgrund, in den man hätte blicken können. Denn man befand sich längst dort, war ganz unten angekommen. Also ging der Blick nach oben. Dort, wo sich die hoffnungsfrohe Zukunft befinden musste. Und das Tolle daran: Dort war sie tatsächlich. »Wohlstand für alle«, das galt nicht nur für die Ludwig-Erhard-BRD, sondern für weite Teile der westlichen Welt. Die USA und halb Europa erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg einen nie gekannten Aufschwung. Was den einen ihr »Wirtschaftswunder«, war den anderen ihr »Miracolo economico« (Italien), ihre »Trente Glorieuses« (Frankreich) oder ihre »Rekordåren« (Schweden).

Dieser jahrzehntelange Boom ging mit einem gigantischen Kaufkraftzuwachs einher. Selbst jene, die sich kein Eigenheim leisten konnten, erlebten in supermodernen Hochhäusern einen nie gekannten Wohnkomfort mit Zentralheizung und eigenem Bad. War es nicht fantastisch, dass sich bald jeder ein eigenes Auto würde leisten können? Vielleicht sogar zwei. In wenigen Jahrzehnten würde man mit seinem Fahrzeug sogar durch die Luft fahren. Ganz bestimmt.

Es waren unschuldige Zeiten. Autos waren gut, Hochhäuser waren gut. An soziale Brennpunkte dachte damals keiner. Genauso wenig wie an den Verkehrskollaps und verpestete Luft. Und das Wort »Klimawandel« hätte man damals anders verstanden. Nach dem ins Wasser gefallenen Sommer 1974 (der Rudi Carrell zu dem Lied »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?« inspirierte) fragte »Der Spiegel« besorgt: »Kommt eine neue Eiszeit?«

Stattdessen kämpfte man in Westdeutschland mit der Arbeitslosigkeit (in Ostdeutschland erst ab 1990). Noch 1973 hatte der Historiker Golo Mann in einem »Playboy«-Interview davon geschwärmt, dass die Jugend von heute ohne Zukunftsangst aufwachse. Das änderte sich schlagartig mit der Ölkrise im Herbst 1973. Binnen 16 Monaten stieg die Arbeitslosenzahl von 267 000 auf rund 1,2 Millionen. Und es würde nicht besser werden. Da verging selbst notorischen Optimisten die Lust auf morgen.

Doch geendet hatte die Zukunftsfixiertheit schon früher. Es waren vier junge Männer aus Liverpool, die stellvertretend für eine ganze Generation die Gegenwart entdeckten. Begonnen hatten die Beatles wie alle Bands Anfang der 60er Jahre in Anzug und Schlips. Mit dem Erfolg kam das Selbst-Bewusstsein, so legten die Beatles Mitte der 60er nicht nur die Krawatten ab, sondern auch die Konventionen. Mit »Rubber Soul« (1965), »Revolver« (1966) und »Sgt. Pepper« (1967) erschlossen sie neue musikalische wie spirituelle Welten und ließen die Öffentlichkeit an ihrem Selbstfindungsprozess teilhaben. Wenn sie in Indien einen Guru besuchten oder John Lennon mit Yoko Ono ein Love-in zelebrierte, waren die Medien mit dabei. Die Botschaft, die dabei vermittelt wurde, war eindeutig: »Schwelg nicht im Gestern, träum nicht von morgen, leb im Heute!«

Die Trennung der Beatles war auch die Folge einer jahrelangen Verausgabung. Auf den ersten Soloalben von Paul McCartney, John Lennon und George Harrison hört man das Bemühen heraus, die Flut der Erlebnisse endlich zu verarbeiten – und sei es, indem man mit den Exkollegen abrechnet. Die ehemaligen Beatles waren nicht die Einzigen, deren Blick zurückging. In den frühen 70ern machte sich eine ganze Generation daran, die aufregenden, doch am Ende ernüchternden 60er zu verdauen. Carole Kings wehmütiges »Tapestry« (1971) sprach derart vielen Menschen aus der Seele, dass es über Jahre hinweg das meistverkaufte Album der Musikgeschichte war. Und wo der Blick zurückgeht, haben Revivals Hochkonjunktur. Filme wie »Der große Gatsby« und »So wie wir waren« (beide mit dem damals meistbegehrten Schauspieler in der Hauptrolle, Robert Redford) schwelgten in den 20er und 30er Jahren. Zugleich entdeckten Bands wie Showaddywaddy, Mud und The Rubettes den Rock ’n’ Roll der 50er wieder. Es war, als versuchte man auf dem Weg der kulturellen Nostalgie, sich eine Auszeit von der Gegenwart zu verschaffen.

Doch nicht jedem stand der Sinn danach, eine Pause einzulegen. Soundtüftler wie Kraftwerk und Giorgio Moroder trieben mit dem Synthesizer die musikalische Entwicklung entschlossen voran. So spaltete sich die Popkultur in Futuristen und Retroisten. Die einen suchten das Neue, die anderen sehnten sich nach dem Alten. Dieses Phänomen blieb nicht auf Musik und Film beschränkt. Mit dem 1972 erschienenen Bericht des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« sollte auch die Gesellschaft unterschiedliche Zeitperspektiven wählen. Bis dahin hatten alle fortschrittsgläubig nach vorn geschaut. Doch nun gab es in nennenswerter Zahl Menschen, die eine Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft ablehnten. Der »Fortschritt« erschien ihnen nicht länger als Versprechen, sondern als Bedrohung. Was hatte es gebracht, dass jeder mittlerweile ein Auto besaß? Permanente Staus im Berufsverkehr, Smog und Lungenkrebs. Wenn so die Gegenwart aussah, was würde einen erst in der Zukunft erwarten! Dann lieber »zurück zur Natur!«

Die Gründung der Grünen war da nur eine Frage der Zeit. Die Partei mochte neu sein, ihr inhaltlicher Kern war es nicht. Mit den Grünen wurde Retro auch in der Politik populär. Und mit jedem Jahr populärer. Die Angst vor der Zukunft nahm im Westdeutschland der 80er Jahre apokalyptische Ausmaße an. Die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen, der Nuklear-GAU von Tschernobyl, Chemiekatastrophen wie die von Bhopal (Indien) und Sandoz (Basel) – das vermeintliche »Spaßjahrzehnt« (»Tempo«) empfanden viele als lebensbedrohlich.

Dann kam der Mauerfall. Schlagartig war die Vergangenheit out und die Zukunft wieder in. So euphorisch hatte man zuletzt in den frühen 60ern nach vorn geblickt. Nur die Grünen hatten von dem neuen Zeitgeist nichts mitbekommen. Trotzig warben sie bei der Bundestagswahl 1990 mit dem Slogan »Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter: Saurer Regen. Ozonloch. Smog. Klimakatastrophe« – und scheiterten in Westdeutschland an der Fünf-Prozent-Hürde.

Statt in die Vergangenheit flohen viele in eine Parallelwelt. Es war fast wie zu Zeiten der Beatles; nur die Gegenwart zählte. Man schluckte Ecstasy (das LSD der 90er) und hüpfte zu Techno und Eurodance (der Rock der 90er). Die Tage verbrachte man in Großraumbüros, um das Geld für die Feiernächte zu verdienen – work hard, party hard! Nur von Weltverbesserung redete keiner mehr. Man sah ja an den Eltern, was es gebracht hatte. Als die 90er schließlich endeten, am 11. September 2001, da war nicht nur die Party schlagartig vorbei, sondern auch die Gegenwart. Seitdem blicken die einen furchtsam in die Zukunft und die anderen wehmütig in die Vergangenheit – wie herrlich entspannt war doch der Kalte Krieg!

Und der Pop, der in seinen besten Zeiten die Gegenwart sezierte und die Zukunft heraufbeschwor? Auch er ist im Gestern gefangen. In den virtuellen Jukeboxen Spotify und Youtube lässt sich so ziemlich jeder Song seit Bill Haleys »Rock around the clock« (1955) abrufen. Wir aber, die wir vom Leben mehr erwarten als Vergangenheitsverklärung und apokalyptische Zukunftsvisionen, fragen uns: Wo ist der Reset-Schalter, der die Gegenwart neu startet? Ernst gemeinte Antworten bitte an die Redaktion!

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