Lothar Wieler: Überbringer der späten Botschaft

Weder Buhmann noch Corona-Held: RKI-Chef Lothar Wieler nimmt nach aufreibenden Jahren seinen Hut

Lothar Wieler räumt den Platz neben seinem dominanten Dienstherrn Karl Lauterbach.
Lothar Wieler räumt den Platz neben seinem dominanten Dienstherrn Karl Lauterbach.

Es war zu erwarten, dass die überraschende Rücktrittsankündigung von Lothar Wieler als Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) von Corona-Verharmlosern via Social Media mit Hohn und Spott kommentiert werden würde. »Danke für nichts« ist da noch ein freundlicher Kommentar. »Die R***** verlassen das sinkende Schiff«, lautet ein andere, gern wiederholte Formulierung. Doch es gibt auch das genaue Gegenteil: »Dank für die Haltung und klare Kante.«

Am Mittwoch hatte das RKI mitgeteilt, Wieler werde »auf eigenen Wunsch zum 1. April sein Amt niederlegen, um sich neuen Aufgaben in Forschung und Lehre zu widmen«. Der Schritt erfolge »im Einvernehmen« mit seinem Dienstherrn, Gesundheitsminister Karl Lauterbach.

Mit Häme hatte es der heute 61-Jährige schnell zu tun, als vor rund drei Jahren mit dem Auftauchen von Sars-CoV-2 das zuvor nur in Fachkreisen bekannte RKI in die breite Öffentlichkeit gelangte. Wieler wurde mit seinen wöchentlichen Auftritten, in denen er in ruhigem Ton eine Lagebewertung vornahm, zu einer Konstanten und zur wichtigen Stimme in der Pandemie. Frühzeitig wurde darüber gespottet, dass ein Tierarzt an zentraler Stelle Corona bekämpfen sollte. Dazu muss man allerdings wissen, dass Wieler vor seinem Wechsel zum RKI von 1998 bis 2015 an der FU Berlin das Institut für Mikrobiologie und Tierseuchen geleitet hatte. Das passt fachlich schon, denn die bis heute plausibelste Theorie zum Auftauchen von Sars-CoV-2 besagt, dass das Virus über einen tierischen Zwischenwirt zum Menschen gelangte. Außerdem braucht ein Behördenchef für seinen Job nicht unbedingt wissenschaftliche Vorkenntnisse.

Was den Chef einer eigentlich langweiligen Bundeseinrichtung zwischen die Fronten einer aufgeheizten Debatte geraten ließ, waren vor allem seine Rufe nach »Impfen, Impfen, Impfen« und nach strengen Maßnahmen. Etwa als er noch Ende 2021 praktisch als Letzter eine »maximale Kontaktbeschränkung« forderte, obwohl mit Omikron eine Variante dominierte, die zwar für höhere Fallzahlen, aber deutlich mildere Krankheitsverläufe sorgte und sich ohnehin der Immunstatus der Bevölkerung deutlich verbessert hatte. Dafür gab es im Netz Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen, zuletzt kursierte ein Hashtag »WielerRaus«.

Gerne vergessen wird hingegen, dass das RKI unter seiner Führung anfangs das Gefahrenpotenzial stark unterschätzte. Noch Ende Januar 2020, als manche Fachleute bereits das Pandemiepotenzial erkannten, ging man davon aus, dass Covid-19 sich auf China beschränken werde. Dadurch ging wichtige Zeit bei der Vorbereitung verloren. Und als Corona später in Deutschland grassierte, sprach sich das RKI bei der Debatte um geeignete Eindämmungsmaßnahmen explizit gegen das Tragen von Masken aus, obwohl einige Studien deren Wirksamkeit belegt hatten. Erst Anfang April 2020 verkündete Wieler persönlich die Kehrtwende und erklärte, Stoffmasken seien doch sinnvoll für die gesamte Bevölkerung. Diese Fehler dürften mit dazu geführt haben, dass der Behördenchef später die Gefahren lieber überzeichnete.

Das RKI unter Wieler trug seinen Teil dazu bei, dass Deutschland zu spät angemessen auf die Bedrohung reagierte. Allerdings ist diese Behörde nicht auf Pandemien ausgerichtet, sondern allgemein auf die öffentliche Gesundheitspflege. Speziell soll sie das Auftreten von Krankheiten und anderer Gesundheitsgefahren in der Bevölkerung erkennen sowie mögliche Schutzmaßnahmen fachlich bewerten. Da einige Jahre vor der Pandemie die Katastrophenschutzkommission aufgelöst worden war und erst Ende 2021 ein neues Corona-Expertengremium einberufen wurde, half die Politik dem RKI zusätzliche Aufgaben über, womit dieses schlicht überfordert war.

Das zeigte sich auch bei der Beurteilung der Coronalage, bei der Zeit eine zentrale Rolle spielt. Zwar veröffentlichte das RKI ab März 2020 einen täglichen Bericht dazu, doch man biss sich hier die Zähne am deutschen Föderalismus aus. Für Datenerhebung und Übermittung sind die lokalen Gesundheitsbehörden zuständig, die mit wenig Personal, teils noch mit Fax und am Wochenende gar nicht arbeiteten – deutliche zeitliche Verzögerung war die Folge. Und so kam es dazu, dass die Johns Hopkins University in Baltimore (USA) mittels anderer Erhebung aktuellere Daten über Deutschland veröffentlichte als die zuständige Bundesbehörde. Auch an der Belastbarkeit der Daten über Infektionen, Hospitalisierungen und Impfstatus haperte es. Dass sich bis heute wenig geändert hat, machte das RKI um den Jahreswechsel deutlich: Der Wochenbericht, der mittlerweile alle Atemwegserkrankungen umfasst, fiel zweimal feiertagsbedingt aus.

Und so ist klar, dass auf den Nachfolger von Lothar Wieler wichtige unerledigte Aufgaben nicht nur bei der Datenerhebung warten. Auch sonst wird er oder sie trotz Beamtenstatus keinen dankbaren Job übernehmen. Wie es heißt, soll ein Grund für den Rücktritt sein, dass Minister Lauterbach neben sich keinen Raum für einen Experten lässt. Außerdem wurde der RKI-Chef wie auch schon von Vorgänger Jens Spahn gerne mal als Sündenbock für eigene Fehler benutzt. So ganz sang und klanglos will Lothar Wieler dann doch nicht gehen, wenn man zwischen den Zeilen seiner persönlichen Rücktrittserklärung liest: »Die Unabhängigkeit der Forschung muss auch zukünftig akzeptiert werden, denn sie ist unabdingbar, damit das RKI seine Aufgaben erfüllen kann«, schreibt er. Sicherlich eine Retourkutsche gegenüber den Dienstherren und der Politik insgesamt, die ständig Druck auf das RKI und etwa die zu diesem gehörende Ständige Impfkommission ausübte.

Aber vielleicht hat Wielers Abgang zum 1. April auch einen ganz anderen Grund als schwierige Chefs und unqualifizierte Attacken im Netz: dass nach seiner Einschätzung dann die Pandemie beendet ist und er sich wieder dankbareren Aufgaben in der Wissenschaft widmen kann.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal