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Der Tag des roten Kleides

Die Lage der indigenen Bevölkerung in Nordamerika ist bis heute geprägt durch die Kolonialisierung.

»Nicht noch mehr gestohlene Schwestern«: Eine Aktivistin auf dem »Red Dress Day« für verschwundene Indigene in Vancouver, Kanada, im Mai 2022
»Nicht noch mehr gestohlene Schwestern«: Eine Aktivistin auf dem »Red Dress Day« für verschwundene Indigene in Vancouver, Kanada, im Mai 2022

Frau Grech, Sie forschen über das »Missing White Woman Syndrome« (MWWS). Was ist darunter zu verstehen?

Die US-amerikanische Journalistin Gwen Ifill sagte einmal auf einer Konferenz, »wenn eine weiße Frau vermisst wird, werden Sie uns jeden Tag darüber berichten sehen.« Damit benannte sie in wenigen Worten das »Syndrom der vermissten weißen Frau«: die Besessenheit der nordamerikanischen Medien und der Öffentlichkeit von weißen, weiblichen, heterosexuellen Opfern – während dieselben Medien die vielen Fälle von verschwundenen queeren, nichtweißen, obdachlosen Frauen, Transfrauen oder Migrantinnen in der Regel ignorieren. Ich bin selbst Angehörige einer Frau, die im kanadischen Strafjustizsystem sozusagen ein- und ausgegangen ist. In diesem Zusammenhang bin ich auf Widerstände gestoßen, mit denen sich viele nordamerikanische Familien mit einem verschwundenen Familienmitglied konfrontiert sehen, das wohnungslos ist oder Drogen konsumiert. Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit systemischen Missständen auseinandergesetzt und das hat mich schließlich zu meinen Forschungsthemen geführt. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum wir immer wieder auf dieselben Hindernisse stoßen und komme mittlerweile zu dem Schluss, dass der Opferstatus in Nordamerika weiß, cis-geschlechtlich und heterosexuell definiert ist. Wenn eine Person nicht in diese Kategorien fällt, dann kümmert sich die Gesellschaft nicht um sie und wird nicht nach ihr suchen oder auch nur darauf reagieren, wenn sie objektiviert oder unterdrückt wird.

Das MWWS ist ja nur ein Symptom eines größeren Problemkomplexes, scheint mir. Was ist denn die allgemeine Stoßrichtung Ihrer Forschungen?

Ich forsche dazu, wie intersektionale politische Arbeit von nichtweißen Frauen den weißen Mainstream-Diskurs über geschlechtsspezifische Gewalt untergräbt. Dazu muss man sagen: Auch der Feminismus und der Aktivismus im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt sind in Nordamerika unglaublich »weiß gewaschen«. Denken wir zum Beispiel an die Me-too-Bewegung: Sie wird vor allem weißen Hollywood-Stars zugeschrieben, wurde aber ursprünglich von Tarana Burke begründet, einer Schwarzen Aktivistin. Solche Erzählung umzudrehen, darauf zielt meine Forschung im Wesentlichen ab. Ich beschäftige mich dabei mit verschiedenen Organisationen, etwa dem Sovereign Bodies Institute, das sich auf Datenschutz und vermisste und ermordete indigene Frauen konzentriert und dem African American Policy Forum, das Polizeigewalt gegen Schwarze Frauen, Mädchen und Femmes dokumentiert. Außerdem arbeite ich mit der kanadischen Organisation Nysa Homes zusammen, die muslimischen Frauen eine sichere Unterkunft bietet, die vor Gewalttaten im privaten oder öffentlichen Raum fliehen. Im Wesentlichen geht es mir darum, den Fokus von weißen Opfern und weißer Viktimologie auf Schwarze Frauen und weibliche PoC zu verschieben.

Aber auch die weißen Frauen werden in der Berichterstattung objektiviert. Die Medien müssen Profite machen, wo sich die Verwendung rassistischer Stereotype leider oft rentiert. Und dann gibt es da »die verschwundene weiße Frau«, die ja selbst Opfer ist, aber ihrerseits auf bestimmte Weise instrumentalisiert wird.

Absolut. Der Kriminologe Nils Christie hat über diese Figur der idealisierten Opferrolle geschrieben, wie nordamerikanische Medien die weiße Frau als Engel oder Jungfrau in Not zeichnen – oder aber zur Hure erklären. Wer nicht in eine dieser drei Kategorien passt, hat ein Problem, da findet dann eine regelrechte Schuldzuweisung statt. Ein konkretes Beispiel dafür, wie eine Frau zu einer Art perfektem Opfer gemacht wird, reduziert auf die sehr eindimensionale Figur des »weißen Mädchens«, ist der Fall Gabby Petito. Wir erfahren in der Berichterstattung über Petito nicht viel von ihrem wirklichen Leben, abgesehen von dem, was ihre Familie der Öffentlichkeit über sie berichtet. Die Medien haben hier einmal mehr ein Symbol des Weißseins errichtet: Da ist die Person Gabby Pitino, das Opfer, das mitsamt ihrer Familie etwas enorm Traumatisches durchgemacht hat und da ist die Gabby Petito, über die alle hashtaggen. Das sind zwei verschiedene Personen.

Mir scheint, wir haben es hier mit zwei verschiedenen Paradigmen zu tun: Erstens das, was im Hinblick auf Gewalt in den verschiedenen Milieus oder Communitys in der wirklichen Welt passiert, zweitens die Berichterstattung darüber. Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Realität und Repräsentation im Zusammenhang mit dem MWWS?

Es ist sehr frustrierend für mich, darüber nachzudenken, wie die kanadischen Medien mit den realen Verhältnissen umgehen. Zum Beispiel erfahren sechs von zehn indigenen Frauen in Kanada Gewalt durch ihre häuslichen Partner – die überwiegend weiße Männer sind, statistisch gesehen. Wir erleben zur Zeit eine Epidemie der Gewalt gegen indigene Frauen, Mädchen und Femmes – Menschen, die weiblich auftreten, sich aber nicht unbedingt als Frau identifizieren. Das ist ein großes Thema nicht nur in Kanada, sondern in der gesamten kolonisierte Sphäre Nordamerikas.

Konkret steht in Kanada zurzeit ein Mann vor Gericht, der wegen des Mordes an vier indigenen Frauen angeklagt ist. Über diesen mutmaßlichen Serienmord habe ich nicht mehr als vier Artikel gelesen, die auf Twitter von Canadian Press aufgetaucht sind. Das zeigt die Situation recht deutlich. Ich nehme an, in Kanada werden insgesamt weit über 2000 indigene Frauen vermisst und die möglicherweise ermordet worden sind. Ihre Namen kennen wir meistens nicht und über diejenigen, deren Namen wir kennen, gibt es nur sehr begrenzte Informationen. Ich muss also die Zahlen dazu schätzen, weil sie entweder noch nicht erhoben sind oder es Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Datenbanken gibt. Eine hat zum Beispiel CBS angelegt, der öffentlich-rechtliche Radiosender von Kanada.

Wie ist denn die soziale Situation von indigenen Communitys, wenn sich das allgemein sagen lässt?

Schlecht, insbesondere in den westlichen Provinzen Kanadas wie Alberta und British Columbia. Dort lebte auch das jüngste Opfer des Serienmörders, von dem ich eben sprach. Er hat offenbar alle Frauen gezielt ins Visier genommen, aufgrund ihres Status als Indigene mit niedrigem Einkommen. Einige dieser Frauen waren außerdem zeitweise obdachlos, hatten eventuell ein Suchtproblem mit entsprechendem Lebensstil. All das trifft auf die Mehrheit der vermissten und ermordeten indigenen Frauen in Kanada zu, würde ich sagen. Die meisten sind Sexarbeiterinnen, stammen aus Gegenden mit niedrigen Einkommen – und aufgrund dieses Status interessiert sich die Gesellschaft nicht für sie, was meiner Meinung nach viel über Kanada aussagt.

Ich muss hier an die Femizide im Norden von Mexiko denken. Dort sind die meisten Opfer Wanderarbeiterinnen aus anderen Staaten Süd- und Lateinamerikas. Auch sie sind arm und genießen keinerlei gesellschaftliches Ansehen, haben häufig keine Familie vor Ort, die sie vermisst – beziehungsweise werden sie nur vermisst von Menschen, die ebenso marginalisiert sind wie sie selbst. Verschwundene Frauen in Kanada werden sicher auch vermisst, etwa von Angehörigen. Aber es klingt bei Ihnen so, als ob auch hier vor allem Frauen viktimisiert werden, die wirklich am sozialen Rand stehen, keinen engen Kontakt zu ihren Familien haben. Wie unterscheiden Sie denn eigentlich analytisch, ob hinter einem konkreten Mord an einer indigenen Person eine rassistische Motivation steckt oder ob der Täter im Grunde nur ausnutzt, dass die betroffene Person völlig wehrlos ist?

Das ist eine gute Frage. Die Antwort geht von einem Gedanken aus, auf dem auch meine Forschungsarbeit basiert: Das ganze Nordamerika ist verwurzelt in kolonialer Gewalt, es wurde auf den Knochen der Ureinwohner*innen und auf dem Rücken der versklavten Menschen gebaut. Die Theoretikerin Angela Davis spricht über die Beziehung zwischen Kapitalismus und Rassismus als zwei Seiten derselben Medaille. Solange sich die nordamerikanischen Staaten dieser Tatsache nicht stellen, wird sich nichts ändern. Eine Gesellschaft, die in der Weise auf Rassismus und rassistischer Gewalt basiert, wird diese Gewalt reproduzieren. Und so ist etwa auch die Gesetzgebung der nordamerikanischen Staaten auf diesem rassistischen Boden gewachsen. Indigene Frauen werden auf eine Weise schikaniert, die die weiße Gesellschaft und die »weißen Gesetze« nicht erfassen kann: Sie erkennen die Überkreuzung von Misogynie und Rassismus nicht an, die spezifische Form der Unterdrückung, der indigene Frauen ausgesetzt sind. Wenn eine indigene Frau zum Beispiel auf offener Straße angegriffen wird, passiert das dem kanadischen Gesetz nach entweder weil sie eine Frau ist oder weil sie indigen ist. Sie wird demzufolge nicht angegriffen, weil sie eine indigene Frau ist. Das Gesetz erfasst nicht, dass beides zugleich der Fall ist, und zwar, weil auch die kanadische Gesellschaft das theoretisch und systemisch nicht sehen will. Stattdessen bekommt man rassistische Rhetorik und erniedrigende Stereotype zu hören: »Oh, sie ist eine indigene Frau! War sie etwa dort unterwegs, weil sie eine Drogenkonsumentin war?«

Ich betrachte Justiz und Recht als Herrschaftssysteme, in die Rassismus und Patriarchat ebenso eingeschrieben sind wie – noch grundlegender – die Bedingungen für die kapitalistische Ausbeutung. Deshalb bin ich skeptisch: An welche Art von Gesetz denken Sie denn?

Um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, ob ein »gutes Gesetz« denkbar wäre, das geschaffen werden könnte. Vielmehr bräuchte es wohl eine vollständige Verschiebung des Systems und das würde in Kanada mit Reparationen, also Wiedergutmachung beginnen. Zum Beispiel mit der Rückgabe von Land an die Gemeinden, denen dieses durch die Kolonisatoren gestohlen wurde und eben auch mit der Suche nach den vermissten indigenen Frauen.

Und ist das realistisch, dass innerhalb des derzeitigen Systems etwas in dieser Richtung passieren könnte? Dieses Konzept der Reparationen ist ja doch sehr eng mit der Eigentumsfrage verbunden.

Idealerweise müsste die kanadische Regierung Schritte in Richtung Reparationen unternehmen. Aber ich weiß tatsächlich nicht, ob Justin Trudeau jemals solche Intentionen hatte … (lacht)

Gibt es denn soziale Kämpfe in diesem Bereich, etwa eine indigene Bewegung?

Zurzeit organisieren sich viele Basisorganisationen, um den Dialog zu intensivieren. Der Hashtag für ermordete und vermisste indigene Frauen wurde viel retweetet und das gibt die Verantwortung zurück an die kanadische Regierung. Hier werden indigene Gemeinschaften sichtbar gemacht, wird gesagt, »wir sehen, was euch angetan wurde und wir wollen eine Diskussion darüber eröffnen.«

Jüngst sind etwa Familien der Opfer nach Ottawa gereist, um mit der Regierung zu sprechen und das Gespräch über indigene Viktimisierung und vermisste und ermordete indigene Frauen in Kanada zu forcieren. Außerdem sehe ich eine Bewegung für Datensouveränität. Viele indigene Organisationen wie etwa das »Sovereign Bodies Institute« erstellen ihre eigenen Datenbanken, nehmen sich also Wissen zurück und gehen eigene Wege zur Verfolgung dieser rassistischen Gewalt. Großartige Arbeit leistet auch das Native Women Canada Institute. Ich denke, zukünftig geht es um die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Basisorganisationen.

Sie meinen also doch, dass von der kanadischen Regierung hier etwas zu erwarten ist?

Ich denke, solange indigene Aktivist*innen an der Basis die Regierung weiterhin öffentlich beschämen und zur Rechenschaft ziehen, können Veränderungen stattfinden. Der einzige Weg, etwas zu verändern, besteht darin, mit dem Finger auf die Privilegierten zu zeigen.

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