Lang lebe die unrockistische Lethargie!

Mach aus einer alten Platte elf neue: Wilco lassen aus ihrem über 20 Jahre alten Album »Yankee Hotel Foxtrot« eine neue Box entstehen

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Verschlafen wirken und trotzdem flott sein: Wie das geht, das lehrt Jeff Tweedy von Wilco, hier live in Bergen, 2019.
Verschlafen wirken und trotzdem flott sein: Wie das geht, das lehrt Jeff Tweedy von Wilco, hier live in Bergen, 2019.

Spätestens wenn Bands und insbesondere Rockbands, in denen alt gewordene Männer wirken, ein, zwei Jahrzehnte auf dem Markt sind, beginnt das Ausschlachten der Archive. CD- und Vinyl-Boxen sind ein sicherer Indikator dafür, dass da etwas Klassikerstatus bekommen soll. Das sieht dann schmuck im Regal aus. Aber man hört die Sammlung von Studio-Outtakes, mehr oder weniger dürr klingenden Live-Mitschnitten oder fast immer entbehrlichen Remixen dann doch nicht.

Es gibt allerdings Ausnahmen, die natürlich ebenfalls ausgeprägtes Fantum zur Voraussetzung haben, damit man etwas damit anfangen kann. Die Chicagoer Band Wilco hat ihr 2001 erschienenes viertes Album »Yankee Hotel Foxtrot« noch einmal rausgebracht, in einer Acht-CD- beziehungsweise Elf-LP-Box, in denen außer dem Originalalbum Alternativversionen, ein komplettes Konzert und ein schön verlabertes Interview enthalten sind. »Yankee Hotel Foxtrot« markierte damals zwar nicht den Abschied vom eher gediegenen Alternative Country, den die Band bis dahin mit mittelgroßem Erfolg gespielt hatte, aber doch dessen umfassende Erweiterung.

Jim O’Rourke, der damals als so etwas wie ein Universalgenie zwischen Avantgarde- und Indie-Welt galt und mit Wilco-Sänger Jeff Tweedy in der Band Loose Fur spielte, wurde als Produzent dazugeholt. O’Rourke empfahl für die Aufnahmen den Drummer Glenn Kotche, der zur Öffnung des Bandsounds wesentlich beitrug. Die Möglichkeiten erweiterten sich – hier noch ein Elektronik-Gefussel, da noch eine seltsame Percussion, hier noch ein Kinder-Vibrafon, da noch ein seltsamer Bruch.

Die Ideen sturzelten offenbar dutzendweise auf die Musiker ein, und »Yankee Hotel Foxtrot« klingt auch heute, gut 21 Jahre später, als wären sie nicht gealtert. Reprise, ein Unterlabel von Warner, wollte die Platte allerdings zuerst gar nicht veröffentlichen und forderte radiotauglichere Musik. Die Band blieb stur, stellte die Songs einfach vorab ins Internet und landete schließlich bei Nonesuch, einem weiteren Warner-Sublabel. »Yankee Hotel Foxtrot« wurde zum kommerziell erfolgreichsten Wilco-Album bis dahin.

Die Musik und vor allem der Gesang Tweedys wirken latent verschlafen, der Grundton ist lethargisch-melancholisch. In den Details und in der unaufdringlichen Komplexität steckt ungemein viel Lebendigkeit, weil all die Feinheiten und Mini-Experimente, die in jedem der Songs präsent sind, so gar nichts Selbstzweckhaftes haben, sondern Ausdruck von Ideenreichtum und Sorgfalt sind. Die Musik wächst mit jedem Hören, je nachdem, auf welche der vielen Spuren man achtet, aus denen sie zusammengesetzt ist. Es geht viel um Abschied in diesen Liedern. Ein Abschied auch von der Unbeschwertheit nicht zuletzt. »I miss the innocence I’ve known«, singt Tweedy in »Heavy Metal Drummer«, »playing Kiss-covers beautiful and stoned«.

Anhand der CD-Box kann man jetzt nachhören, wie das alles entstanden ist. »American Aquarium – Building Yankee Hotel Foxtrot«, die zweite CD, enthält Songs, die es nicht aufs Album geschafft haben, und frühe Versionen. Die aber haben nichts Vorläufiges oder Defizitäres, was dann später weggeglättet worden wäre. Es gilt für alle Songs auf »Yankee Hotel Foxtrot«, dass man diese offen strukturierten Stücke auch ganz anders spielen könnte. Die Album-Versionen sind keine definitiven, sondern einfach die Möglichkeit jeweils, die in der Musik steckt, die dann eben ausgewählt wurde.

Die Hochgeschwindigkeits-Banjo-Version von »War on War« ist nicht schlechter als die, die man bislang hören konnte. Das Gleiche gilt für die pathetische Piano-Version von »Ashes of American Flags«, ein Stück, das sich eh schon, auch wenn die Akustikgitarre dominiert, anhört wie eine Klavierballade. Das Loose-Fur-Stück »Laminated Cat (aka Not For The Season)« wiederum, auf dem Originalalbum nicht enthalten, klingt, wenn Wilco es spielen – als »Not For The Season (aka Laminated Cat)« –, als hätte auch ein Band-Klassiker draus werden können: einmal als zerdehntes Stück, wie auf Serotonin, und einmal als Stadion-Crowd-Pleaser auf der dritten CD, »Here Comes Everybody«.

Es gibt viel zu entdecken in dieser Box, die vor musikalischen Einfällen überquillt und die sich schon dadurch von dem meisten ähnlichen Retrospektiven im Kastenformat unterscheidet. Zum Beispiel eine Version von »Ashes of American Flags«, unter die Strawinsky-Samples gemischt wurden, was gut funktioniert und anders klingt als alles, was Wilco ansonsten an Musik in die Welt gebracht haben.

Die Schönheit dieser Musik kommt aus ihrer Brüchigkeit, die getragen wird von einer angenehm unrockistischen Lethargie und konzentrierter Experimentierfreude. Zu hören, wie diese Songs in anderen, sozusagen gleichwertigen Versionen jeweils andere darin enthaltene Möglichkeiten realisieren, verstärkt diesen Eindruck noch. Musik in Form einer nie abgeschlossenen Suchbewegung.

Wilco: »Yankee Hotel Foxtrot (Super Deluxe Edition)« (Nonesuch/Warner)

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