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Argentinien zeigt Deutschland den Weg

Das Selbstbestimmungsgesetz des südamerikanischen Landes gilt weltweit als vorbildlich

  • Aline Spantig
  • Lesedauer: 4 Min.

»Eine totale Freiheit« fühlt Azula aus Buenos Aires mit dem neuen Ausweis in den Händen. Dort steht jetzt ein »X«, wo vorher ein anderes Geschlecht stand. Das argentinische Gesetz dazu gilt weltweit als fortschrittlich. Die Änderung des Geschlechts auf dem Ausweis ist kostenlos. 15 Minuten dauert der Online-Antrag. Danach ein Besuch mit korrigierter Geburtsurkunde beim Amt und innerhalb weniger Wochen landet der neue Ausweis im Briefkasten. In Deutschland ziehen sich derartige Verfahren über Monate und kosten im Schnitt 1800 Euro. In Südamerika ist man da schon lange etwas weiter.

Argentinien war 2012 das erste Land, das eine Änderung des Geschlechtseintrags per Selbstauskunft ermöglichte. Das Gesetz »ley de identidad de género« (Gesetz zur Geschlechtsidentität) wurzelt in der Selbstwahrnehmung des Geschlechts. So soll es auch in Deutschland kommen. Was zählt, ist, wie eine Person ihr Geschlecht selbst wahrnimmt. Darin ist sich die Ampel-Regierung seit vergangenem Jahr einig. Weniger einig ist man sich allerdings, wie das neue Selbstbestimmungsgesetz aussehen soll.

»Es ist eine ständige Belastung, mit nicht passenden Dokumenten durch den Alltag zu gehen«, sagt Kalle Hümpfner vom deutschen Bundesverband Trans*. Wenn der Ausweis nicht zum Erscheinungsbild passt, müssen Personen sich rechtfertigen. Bei Wohnungssuche, Bewerbungen oder Flugreisen geraten sie schnell unter Druck, sich erklären zu müssen.

Kompliziert ist es in Deutschland auch dadurch, dass unterschiedliche Verfahren gelten. Trans und nicht-binäre Personen müssen beim Amtsgericht Gutachten vorlegen. Sie berichten von intimen Fragen über Sexualität, Masturbieren oder Unterwäsche. Inter Personen hängen von einer pathologisierenden Untersuchung ab. In Argentinien gilt für alle Geschlechter die gleiche rechtliche Grundlage. Neben »männlich« und »weiblich« gibt es seit 2021 eine dritte Option für den Geschlechtseintrag, die »X« lautet. Laut Nationalregister sind Personen durchschnittlich 33 Jahre, wenn sie eine Änderung beantragen.

In Argentinien besteht weiterhin das Recht, den Körper kostenlos an das Geschlecht anzugleichen. Versicherungen decken Operationen und hormonelle Behandlungen. In Deutschland hängt das davon ab, ob Ärzt*innen und Krankenkasse zustimmen. Das ändert sich durch das neue geplante Gesetz nicht. Das Selbstbestimmungsrecht wird medizinische Fragen nicht neu regeln, verlauteten die zuständigen Bundesministerien explizit.

Insbesondere Minderjährige berücksichtigt das Gesetz in Argentinien, wenn sie einen anderen Vornamen nutzen als der, der im Ausweis steht. Sie können in der Schule darauf pochen, dass Lehrer*innen sie bei dem Namen nennen, der dem wahrgenommenen Geschlecht entspricht. In Deutschland gibt es dazu zwar ein Offenbarungsverbot. Allerdings fehlt vor allem Minderjährigen eine rechtliche Grundlage, um entsprechend ihres Geschlechts angesprochen zu werden.

Eine Lösung hat Argentinien auch für ausländische Staatsangehörige. Das argentinische Gesetz schließt sie ausdrücklich ein, denn oftmals kooperieren Herkunftsländer nicht oder es fehlt die Geburtsurkunde. So war es auch der Fall bei Azula, ursprünglich aus Venezuela. Azula änderte das Geschlecht im argentinischen Ausweis über die Einwanderungsbehörde. Hierzulande stehen Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft vor einem »bürokratischen Endlosmarathon«, wie Kalle Hümpfner beschreibt. Sie müssen nachweisen, dass sie den Geschlechtseintrag im Herkunftsland nicht korrigieren können.

Azulas Verfahren dauerte allerdings außergewöhnlich lange. Dazu kam ein technischer Fehler im Meldesystem. »Was das Gesetz vorschreibt, unterscheidet sich von der gelebten Realität«, so Azula. Auch Daniela Ruiz kritisiert inkompetente Behörden. Die Schauspielerin und Aktivistin setzt sich in mehreren Organisationen für LGBTI*-Personen und Gleichberechtigung ein. Sie bemängelt alltägliche Diskriminierung und Transphobie im Land. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen erfahren trans Menschen überdurchschnittlich häufig Armut und Gewalt. In Argentinien liegt ihre Lebenserwartung unter 40 Jahren. Trans Menschen sind unterversorgt im Gesundheitssystem und der schulischen Ausbildung laut der Organisation RedLacTrans.

Argentinien zeigt sich bei allen Schwierigkeiten kontinuierlich progressiv. Seit 2020 existiert ein eigenes Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität. Ein Prozent der Stellen im öffentlichen Sektor ist trans Personen vorbehalten. Die Politik nimmt die vielen Aktivist*innen ernst, die regelmäßig auf der Straße für progressive Gesetze marschieren. »Sicherlich hat die Gesellschaft noch einiges nachzubessern«, sagt Daniela. »Aber ich bin stolz auf Argentinien und glaube, dass andere Länder von unseren Gesetzen lernen können.«

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