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»Ich sah, wie Deutsche gewütet hatten«
Zum Tod von Hans Modrow: Bilanz eines Lebens – ein Gespräch über persönliche und historische Wendepunkte
Hans Modrow, als am 1. September 1939, der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann, waren Sie elf Jahre alt. Wie haben Sie davon erfahren?
Hans Modrow, geboren 1928, war Funktionär der FDJ und der SED. Im Wendeherbst 1989 wurde er Ministerpräsident der DDR – für ein wildes halbes Jahr. Nach der deutschen Vereinigung gehörte er dem Bundestag und dem Europaparlament an, war in der PDS und der Linkspartei aktiv. Am Wochenende ist Hans Modrow im Alter von 95 Jahren gestorben. Wir erinnern an seine Lebensleistung mit Auszügen aus einem nd-Interview, das Ende 2019 geführt wurde. Darin blickte er auf politische und persönliche Umbrüche in seinem langen Leben zurück.
Wir waren überrascht, denn nach der Olympiade 1936 in Berlin glaubten wir nicht an einen baldigen Krieg. Im Gegenteil. Anders war das 1941. Ich war in Anklam, bei einem Dreikampf aus Weitsprung, Laufen und Werfen, also die Vorbereitung auf das Soldatsein. Dort hörten wir, dass der Krieg sich gegen die Sowjetunion wendet. Da spürten wir, jetzt beginnt etwas ganz anderes als bisher.
Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass der Krieg Sie ganz persönlich betrifft?
Zum Jahreswechsel 1942/43, als die Bombenangriffe unser Dorf erreichten. Wir hatten in der Nähe, bei Stettin, ein Hydrierwerk, in dem ich Maschinenschlosser lernte. Da wurde Benzin hergestellt, und das war ein Ziel für die Bomber. Die Männer im Ort waren alle im Krieg, also mussten die Jugendlichen in der Feuerwehr Dienst tun. Ich musste immer wieder zu Einsätzen mit raus. In unserem Dorf sind fast 30 Menschen umgekommen durch Bomben.
Wann sind Sie zum Volkssturm gekommen?
Im Januar 1945. Die ganze Lehrwerkstatt musste einrücken, 200 Jungs.
Waren Sie kriegsbegeistert?
Nein, aber zum Krieg bereit. Uns wurde jedoch sehr schnell bewusst: Du sollst schießen, und das ist kein Spiel mehr. In einer unserer Baracken probierte einer mit der Panzerfaust herum, drückte aus Versehen ab, und die halbe Baracke ging zu Bruch.
Wie gerieten Sie in Gefangenschaft?
Wir wurden auf die Insel Rügen geschickt, Verteidigungsanlagen bauen. Unser Hauptmann sagte eines Tages: »Das ist vorbei, Jungs, geht nach Hause.« Vorher sollten wir alle Waffen in den Gutsteich werfen. Irgendwann liefen wir Rotarmisten in die Arme. Die nahmen uns natürlich mit; wir trugen ja noch Uniformen, aber zum Glück keine Waffen. Ich habe auf keinen Rotarmisten geschossen.
Sie waren vier Jahre in Gefangenschaft.
Ja, in Polen und der Sowjetunion. Einen Winter habe ich in Moskau gearbeitet, in einem Heizkraftwerk. Wir fingen an zu lesen, Anna Seghers, sowjetische Jugendbücher. Und dann kam die Frage, ob ich zur Antifa-Schule gehe. Da kannst du was lernen, hieß es.
Sie waren vier Monate im Volkssturm und fast vier Jahre in Kriegsgefangenschaft. Haben Sie das als ungerecht empfunden?
Zunächst ja. Aber in den Lagern gab es Leute vom Antifa-Komitee, die uns gesagt haben: Schaut euch an, was hier alles kaputt ist, wie die Deutschen gewütet haben. So haben sie mir klargemacht, dass wir nun dafür arbeiten müssen. Wiedergutmachung war der erste Begriff, den ich aufgenommen habe. Daraus ist eine politische Haltung entstanden.
1952 haben Sie in Moskau an der Komsomol-Hochschule ein Studium begonnen. Wie war das, nach der Kriegsgefangenschaft in dieses Land zurückzukehren?
Es war ein zwiespältiges Erleben, aber ich wurde als Freund aufgenommen. Ich wohnte mit einem sowjetischen Studenten in einem Zimmer. Sascha Wassiljew hat mich nie korrigiert, wenn ich im Russischen etwas falsch gemacht hatte. Der stellte lieber die Frage noch mal, bis ich es begriffen hatte.
Was war 1949 für Sie der Anspruch des neuen Staates DDR?
Die Jugend hatte sich noch nicht vollständig vom Faschismus gelöst. Das wollten wir aber erreichen, gerade wir jungen Politiker, damit etwas Neues beginnen konnte. Dazu musste ich mich in ganz neue Fragen einarbeiten: Berufsausbildung, Wirtschaft.
Was waren die wichtigsten Leistungen der DDR, was die gravierendsten Defizite?
Erstens: Die DDR war im Grundansatz und im Leben ein antifaschistischer Staat. Dass der Antifaschismus später nicht mehr ausreichend vermittelt wurde und nicht mehr aus unmittelbarem Erleben wachsen konnte, ist eine andere Frage. Zweitens: Wir mussten alles neu aufbauen, einige Grundlagen hinterließ die sowjetische Administration: die Bodenreform, die Enteignung der Konzerne. Und drittens: Ulbricht hat in den 60ern darauf geachtet, dass in die Betriebe investiert wurde. Dafür floss nicht so viel in den sozialen Bereich. Als Honecker 1971 die Führung übernahm, kam es zu Umschichtungen. Die Akkumulationsrate in den Betrieben ging zurück, die sozialen Leistungen wuchsen ständig.
Wann begann in der DDR politisch und wirtschaftlich etwas schiefzulaufen, was letztlich nicht mehr zu reparieren war?
Mitte der 70er Jahre. Da merkte ich, dass die Balance nicht stimmte, dass die wirtschaftliche Entwicklung gebremst war. Im Rückblick war das der Beginn der großen Probleme. Die Wirtschaft konnte die Sozialpolitik nicht dauerhaft tragen. Aber darüber wurde nicht diskutiert, entsprechende Analysen landeten im Panzerschrank. Als ich nach Dresden ging, als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, sagte mir ein Politbüromitglied: Sorge dafür, dass dieses Theater mit den Rechnern von Robotron aufhört. Wir brauchen vor allem Konsumgüter, damit die Leute zufrieden sind. Wir haben uns dann darum gekümmert, dass das Robotron-Kombinat trotzdem bleibt.
Ende der 80er Jahre, in der Gorbatschow-Zeit, wurden Sie in westdeutschen Medien als SED-Hoffnungsträger beschrieben, der die DDR erneuern könnte.
Das brachte mir Misstrauen in der SED-Führung ein. Und die Lobeshymnen im Westen waren ja nicht von Dauer. Mitte der 80er kam Klaus von Dohnanyi, der Hamburger Bürgermeister von der SPD, nach Dresden und begegnete mir sehr respektvoll. Als er in den 90ern für die Treuhand die DDR-Kombinate privatisierte, kippte das. Die Stimmung war eine völlig andere. Solange du mit denen auf einer Ebene bist, sind sie lieb und nett. Wenn das aber vorbei ist, bist du der Schurke.
Im Herbst 1989 sprachen Sie als einer der ersten SED-Politiker mit den Demonstranten. Was verbinden Sie mit dem Begriff »Friedliche Revolution«?
Ich sehe das nicht als friedliche Revolution. Es war eine Implosion, eine innere Aushöhlung der DDR, auch der Sowjetunion. Und wo keine Stabilität mehr ist, da beginnt der Zerfall. Ein widersprüchlicher Prozess.
Ab wann wussten Sie, dass die deutsche Einheit kommen wird?
Als Ministerpräsident ging ich im November 1989 davon aus, dass eine Vereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung steht. Ich schlug eine Vertragsgemeinschaft beider Staaten vor, das übernahm Bundeskanzler Helmut Kohl. Im Januar 1990 erklärte der sowjetische Regierungschef Ryschkow, der RGW, das Wirtschaftsbündnis der sozialistischen Länder, müsse reformiert werden. Wir konnten nicht mehr unsere Dampfer gegen sowjetisches Erdöl tauschen, unsere Eisenbahnen gegen sowjetisches Gas. Alles gegen harte Währung – dafür war unsere Wirtschaft nicht ausgestattet. Ab da stand für mich die Frage der Vereinigung.
Wie war Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl?
Es war gegenseitige Achtung, mehr nicht. Und ein staatsmännisch diplomatischer Umgang. Aber ich spürte, dass er eher bereit war, sich mit Gorbatschow und dem russischen Präsidenten Jelzin zu arrangieren. Wir erreichten immerhin, dass die Entscheidungen der sowjetischen Militäradministration von 1945 bis 1949 gültig blieben, vor allem die Bodenreform. Und wir erließen ein Gesetz, wonach DDR-Bürger, die ein Haus besaßen, preisgünstig das Grundstück dazu erwerben konnten. Dafür bedanken sich noch heute Leute, weil sie sonst nie ihre Häuser behalten hätten.
Das vollständige Interview mit Hans Modrow vom November 2019 finden Sie auf nd-online.de.
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