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Untertauchen in Berlin

Schwimmen zu Nazi-Zeiten – wie ein jüdisches Mädchen in Berlin überlebte

  • Anne Hahn
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Strandbad in Lübars gibt es heute noch – im Sommer zieht es viele Berlinerinnen und Berliner dorthin.
Das Strandbad in Lübars gibt es heute noch – im Sommer zieht es viele Berlinerinnen und Berliner dorthin.

»Am Eingang der Badeanstalt in Lübars hing das übliche Schild: Solche wie ich waren dort unerwünscht. Doch was kümmert’s mich? Es weiß ja keiner, dass ich nicht hineindarf! Ich suchte mir ein nettes, etwas abgelegenes Fleckchen, breitete meine Liegedecke aus, auf der ich meine Sachen ablegte. Dann stürzte ich mich in das Wasser, in den ehemaligen Tonstich. Es war so angenehm kühl. So wunderbar erfrischend. So herrlich, herrlich, herrlich.«

Über Wasser
Anne Hahn
Foto: Privat
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Berlin im April 1945, eine Nacht Dauerbeschuss. Zwei Frauen verkriechen sich in die hinterste Ecke des Hochbunkers Wittenauer Straße. Ein Volkssturmmann flüstert, der Iwan stünde schon bei Lübars, nicht mehr lange, dann seien sie am Reichstag. »Und denn is aus mit’m Krieg.« Ist es auch und damit endet die Leidenszeit der zwei Frauen, Mutter und Tochter, die in der Wittenauer Laubenkolonie »Einheit« den Zweiten Weltkrieg überstehen. 1928 als Kind eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter geboren, erlebt Ruth Winkelmann noch die Freiheit der Weimarer Republik, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, Krieg, Hunger und schließlich das Erlöschen ihrer gesamten jüdischen Familie.

Die Enkelin der erfolgreichen Abrissunternehmerin Ernestine Jacks lebt bis heute in ihrer Heimatstadt Berlin. In mehreren Gesprächen mit der Autorin Claudia Johanna Bauer entstand das Buch »Plötzlich hieß ich Sara – Erinnerungen einer jüdischen Berlinerin 1933–1945«. Präzise schildert Ruth Winkelmann den Tag im November 1938, an dem sie auf dem Schulweg geplünderte jüdische Geschäfte sieht. In der Berliner Gartenstraße wohnen viele Juden, dort toben sich SA-Schläger aus. Auf Höhe der Badeanstalt nimmt ein Mann mit Hut, Mantel und Schläfenlocken mit ausdrucksloser Mine hin, dass er beschmiert und als Judenschwein beschimpft wird. Die Jüdische Mädchenschule in der Auguststraße wirkt noch friedlich, doch bald wird sie von SA-Truppen belagert. Die vor Angst starren Lehrerinnen und Schülerinnen sind mucksmäuschenstill, fliehen schließlich über die Dachböden, betreten zu zweit die Straße und verschwinden. Wie bald aus der Stadt, dem Land, aus Europa.

Ruth wird zur Zwangsarbeit in einer Uniformfabrik verpflichtet und kann mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester in einer Laubenkolonie in Reinickendorf untertauchen, wo sie bis zum Kriegsende bleiben. Im Sommer 1943 brennt die Sonne auf das winzige Häuschen, versengt die Wiese unter den Obstbäumen. Ruth möchte mal wieder raus in die Natur. Packt ihre Badesachen und läuft zum Strandbad Lübars. Der Bademeister Karl Schwedthelm beobachtet sie, lädt sie gleich am ersten Tag ein, mit seinen Schwimmschülern Völkerball zu spielen. Bald kommt sie regelmäßig, ist einfach ein junges Mädchen, das Spaß am Schwimmen und Ballspielen hat.

»Wir übten Kraulen, Rückenschwimmen und alle möglichen Sprünge vom Brett.« Eines Tages schwimmen sie fünfundvierzig Minuten am Stück, schaffen spielerisch den Frei- und Fahrtenschwimmer. Um die Urkunde abzuholen, soll Ruth ihren BDM-Ausweis mitbringen. Den hat sie nicht, erfindet Ausreden, bis die Ehefrau des Bademeisters behutsam die Wahrheit erkundet. Und schweigt. Die am 6. August 1943 ausgestellte Urkunde ist in Ruth Winckelmanns Lebenserinnerungen abgebildet. Vier Jahre später zeltet sie den Sommer über mit ihrem künftigen Ehemann in Konradshöhe und springt abwechselnd in die Havel oder den Tegeler See. Ihre Lieblingsschwimmstrecke ist Havelwerder – Liebesinsel (Kleiner Wall) und zurück.

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