Berlinale-Wettbewerb: Die Liebe ist ein seltsames Spiel

Emily Atefs »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« – Ein Film gefangen im Ost-Klischee

Irgendeine neue Facette hätte es doch auch bei dem Sujet »stürmische Liebe zwischen älterem Mann und junger zielloser Frau« geben müssen.
Irgendeine neue Facette hätte es doch auch bei dem Sujet »stürmische Liebe zwischen älterem Mann und junger zielloser Frau« geben müssen.

In Sachen Produktivität ist die in Berlin geborene deutsch-französische Regisseurin Emily Atef wohl schwer zu schlagen. 2018 erst war sie im Berlinale-Wettbewerb mit dem in Schwarz/Weiß gedrehten Romy-Schneider-Biopic »3 Tage in Quiberon« vertreten. Seitdem – und auch vorher schon – folgt fast Jahr für Jahr ein neuer Film, für die sie meistens auch das Drehbuch selbst schreibt. Nach einem Thriller (2019) und einer Tatort-Folge (2020) folgte im vergangenen Jahr ihr Kinofilm »Mehr denn je«, in dem es um selbstbestimmtes Sterben ging. Die 2021-Lücke dürfte wohl Corona zuzuschreiben sein.

Ob ein solches Arbeitspensum längerfristig durchzuhalten ist, ohne irgendwann auf Kosten der Qualität zu gehen, scheint angesichts ihres aktuellen Wettbewerbsbeitrags »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« eine legitime Frage. Dabei zeugt der Film zweifellos von routiniertem Können und ist professionell erzählt. Wir befinden uns im Jahr 1990 auf einem Bauernhof irgendwo im thüringischen Niemandsland, nahe der deutsch-deutschen Grenze, die ja seit Kurzem offen ist und die Parameter des gewohnten Alltags verschiebt. Hier lebt die verträumte 19-jährige Maria (Marlene Burow) bei ihrem Freund, einem angehenden Kunststudenten, und seinen Eltern, die sie als künftige Schwiegertochter ansehen. Die existenzielle Unsicherheit der Wendezeit dringt kaum ins Dorf, wie überhaupt die Idylle etwas Unwirkliches hat. Die Szenerie ist in goldenes, warmes Licht getaucht und das Leben auf dem Dorf erweckt durchgängig den Eindruck einer Geschichte aus der Vorkriegszeit oder noch früher.

Wieder einmal bleibt zu konstatieren, dass sich ein Kanon etabliert hat, der immer dieselben Schablonen reproduziert, ein Prozess, der angesichts des zunehmenden historischen Abstands zur DDR scheinbar unvermeidlich ist. Für Zwischentöne ist da kaum Platz, und so sächseln sich die Protagonisten durch die Handlung und bedienen jedes Klischee des gutherzigen, etwas naiven Ostdeutschen. Richtig ärgerlich wird es hingegen, wenn Maria am Küchentisch von ihren Ferien in einem Pionierlager erzählt und ihr nichts anderes einfällt als der dreimal täglich stattfindende Fahnenappell samt Absingens von Arbeiter- und Kampfliedern und ihr Gefühl des Eingesperrtseins. Damit verfolgt die Regisseurin und Drehbuchautorin ein Narrativ, das sich der groben Raster bedient und eigentlich längst differenzierterer Betrachtung gewichen sein sollte.

Offenbar hat die kindliche Diktaturerfahrung bei Maria jedoch einen Hang zum Masochismus oder zu Unterwerfungsfantasien hinterlassen. Anders ist nicht zu erklären, dass sie sich eines Tages mit dem doppelt so alten und alleinlebenden Henner (Felix Kramer) vom Nachbarhof einlässt. Wobei »einlassen« fast ein Euphemismus ist, denn Henner verkörpert jene Art von vor Virilität strotzendem Mann, der sich mit Nachdruck nimmt, was er begehrt. Da kann Marias im Vergleich milchbubihafter Freund freilich nicht mithalten, und Maria lässt sich gerne im Sturm bezwingen. Das klingt leider nicht nur klischeehaft, sondern ist es auch.

Der zur Poesie neigende Henner (Merke: raue Schale, weicher Kern) sendet ihr nach der ersten Kopulation ein Zettelchen: »Jetzt habe ich dich gefangen und in meine Höhle geschleppt«, und im Berlinalepalast gibt es erstes Kichern. Der Geschlechterdiskurs kommt bei Atef erstaunlich altmodisch daher und der Rezensent geht jede Wette ein, dass es, wäre der Film von einem Mann gemacht worden, einige Entrüstung ob des überkommenen Rollenbildes, in dem das Weibchen scheu der Eroberung harrt und hart genommen werden will, gegeben hätte.

Nun ist die Geschichte von der stürmischen Liebe, die alles hinwegfegt, zweifellos das älteste Sujet in der Kunstgeschichte. Irgendeine neue Facette sollte der Zuschauer daher von dieser Erzählung erwarten dürfen. Weder in der Rahmenhandlung noch in der Story von der leidenschaftlichen, aber ungleichen Liebe ist jedoch etwas zu entdecken, was mehr als sattsam bekannte Stereotypen wiederkäut.

Die Beschreibung der obsessiven Liebe zwischen Maria und Henner bedient sich freimütig aus dem Baukasten für Melodramen und bemüht sich kaum darum, die Versatzstücke wenigstens etwas zu modernisieren. »Das Leben kann sehr schmerzhaft sein, aber es bleibt nicht so«, versichert die Mutter der Tochter angesichts des unausweichlichen Konfliktes. Aha. Leider ist der Film danach immer noch nicht zu Ende. Weiter geht es bis zum dramatischen Finale.

So richtig ersichtlich wird nicht, was Atef an der Adaption des gleichnamigen Romans von Daniela Krien interessiert hat, zumal der historische Hintergrund weitgehend unscharf bleibt. Die Rahmenhandlung der Rückkehr des vor langer Zeit in den Westen gegangenen Sohns der Familie läuft parallel nebenher, ohne dass sich die Handlungsstränge berühren oder miteinander zu tun haben. Diese Schwäche des Drehbuchs wird auch durch die durchaus beachtlichen Schauspielerleistungen kaum kompensiert. Maria wird am Ende zwar erwachsen geworden sein, aber dieser Reifeprozess bleibt lediglich Behauptung, fühl- und sichtbar ist er nicht.

»Irgendwann werden wir uns alles erzählen«: Deutschland 2023. Regie und Buch: Emily Atef. Mit: Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich. 129 Minuten. Weitere Termine: So, 16.2., 16.00 Uhr, Verti Music Hall.

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