Gelesen - dabei gewesen

Neuerscheinungen, annotiert: Ludwig Lugmeier, Matthias Matschke und Dadaismus im »Palmbaum«

  • Niko Daniel
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Löwe wartet auf dich

Was für Storys, was für Stimmungen: Ein Mann wird zum Hund, weil er dann besser durchs Leben kommt. Ein Zug bleibt stehen, und draußen hält die Polizei die Menge davon ab, den Zug zu stürmen – so lange, bis man hinausbegleitet und selbst Teil der Menge wird. Ein Mann erbt ein Haus und findet darin eine Springmaus, die er heiratet, auf dem Standesamt in Weiß, als wäre das ganz normal. Eine Religionsgemeinschaft warnt vor den »schwarzen Schnegeln«, die mit ihren »Raspelzungen und Giftdrüsen« dem Urmeer entsprungen sind und die die Erde mit »ihren Gelegen« mittels »Selbstbefruchtung« bis zum Weltuntergang durchsetzen – ein großer Unsinn, bis man sie unterm Dachboden hört. Ein Hypnotiseur überzeugt den Erzähler, ein Tier zu sein: »Geh zurück zum Gehege! Klettere über die Brüstung! Schwimm durch den Graben! Der Löwe wartet auf dich. Er ist dein Bruder« – und dieser glaubt es und macht alles. Klingt wie Franz Kafka oder Roald Dahl auf LSD oder auf Pilzen – und auch von diesen Gebräuchen legt Ludwig Lugmeier Zeugnis ab in seinen geradezu klassisch formulierten »abseitigen Geschichten«, die einen schaudern machen im lächelnden Gesicht. Bis man auch der Meinung ist, dass sich im Schrank jemand versteckt haben könnte: Hat man nicht eben Geräusche gehört? »Wenn ich daran denke, laufen mir kalte Schauer den Rücken hinunter. Ich weiß, ich werde nie wieder auf dem Bett ausgestreckt den Abend genießen. Damit ist es vorbei.«

Ludwig Lugmeier: So der Herr mit Zylinder. Abseitige Geschichten. Verlag Expeditionen, 150 S., br., 15 €.

Vater, wo bist du?

In einem Vorort von Darmstadt. Der Vater ist evangelischer Pfarrer, die Mutter arbeitet bei der Post »im Fernmeldewesen«. Der Sohn fühlt sich allein, auch unter Freunden. Sein Vater spricht nicht viel über seinen Glauben. »Mich würde er nie fragen, ob ich an Gott glaube, er geht einfach davon aus, dass ich das tue. Und da er mich nicht fragt, gehe ich irgendwie auch davon aus. Ihm geht es mehr darum, wie der Glaube aussehen soll, sagt er. Was das heißt, verstehe ich nicht.« Der Sohn hat andere Sorgen: Computerspiele, Schule, Mädchen. Er ist oft ratlos. Die Eltern sind es auch, sie sind am liebsten nur für sich und finden andere Menschen irritierend, wie in einer ewigen Pubertät. So kann man keine Pfarrei betreiben; der Vater wechselt in die Kirchenverwaltung. Am meisten interessiert er sich für Autos. Aber dann bekommt er einen Schlaganfall und liegt lange im Koma. Und auf einmal wird aus der melancholischen, leicht zerfahrenen Coming-of-Age-Geschichte, die der Schauspieler Matthias Matschke, unter anderem bekannt aus »Pastewka«, »Ladykracher« und »Heute-Show«, als Debütroman vorlegt, eine pointierte psychologische Erzählung über das Verhältnis von Vater und Sohn. Es ist ein bisschen wie in der Bibel: Erst im Leiden kann der erwachsen werdende Sohn den Vater erkennen und anerkennen. Das schafft berührende Momente.

Matthias Matschke: Falschgeld. Hoffmann und Campe, 256 S., br., 24 €.

Alles Dada?

Europa ist wieder im Krieg, noch blutiger als zuletzt im zerfallenen Jugoslawien. Passend dazu erinnert der neue »Palmbaum«, das »literarische Journal aus Thüringen« an mehr als 100 Jahre Dada, diese epochale Kunst- und Literaturbewegung, die im Ersten Weltkrieg entstanden ist. Heute droht der Ukraine-Krieg laut Jürgen Habermas, »den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen«. Im Editorial schreibt Jens-Fietje Dwars, »›der Westen‹, das Imperium des Kapitals, das von der Pariser Commune über die Interventionsfeldzüge gegen das junge Sowjetrussland bis zu Allendes Unidad Popular noch jede Erhebung der Besitzlosen in ihrem eigenen Blut zu ersticken versucht hat, erklärt sich zum alleinigen Verteidiger von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten«. Allerdings verbreitet Russland noch nicht einmal eine solche Ideologie, ganz im Gegenteil. Deshalb müssen alle Forderungen, pathetisch und ideologisch eine Seite zu wählen, abgelehnt werden, um die Friedensbewegungen in beiden Staaten zu unterstützen – nur leider sind die nicht zu erkennen, anscheinend wollen alle kämpfen. Es ist so ähnlich, wie es Wenzel und Mensching in »Letztes aus der Da Da eR«, ihrem »clownesken Endspiel« zum Ende der DDR beschrieben haben, als sie sangen: »Aber das Volk ist wie immer / der Lage nicht gewachsen / Es kocht Windeln und Zwiebelsuppe / Es wartet, dass sich das Wetter bessert«. Ein Auszug daraus ist im »Palmbaum« abgedruckt. Desweiteren schreiben unter anderem Klaus Bellin über E.T.A. Hoffmann, Rolf Stolz über Wilhelm Busch, Ulrich Kaufmann über Alfred Jarry und Hans-Dieter Schütt über »Monty Python und die Sense des Non-Sense«.

»Palmbaum«, Heft 75, 12 €.

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