Realismus statt Revolution

Das Berliner Projekt autofreier Graefekiez startet deutlich eingedampft im späten Frühjahr

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit Bekanntwerden der Pläne, den Kreuzberger Graefekiez radikal von Auto-Parkplätzen zu befreien, war das Projekt eines der heiß diskutiertesten in der oft hysterisch und unversöhnlich geführten Debatte über die notwendige Verkehrswende. In diesem Frühsommer soll es nach dem Willen des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg nun starten – allerdings in einer deutlich eingedampften Version, wie seit Dienstagnachmittag bekannt ist.

Nur noch an zusammengenommen rund 400 Metern der Böckhstraße und Graefestraße sollen alle Auto-Parkplätze umgenutzt werden, was den Wegfall von etwa 80 Stellplätzen bedeutet. Weitere rund 320 Parkplätze im knapp 22.000 Einwohnern zählenden Kiez sollen punktuell für 37 Lieferzonen und 13 Jelbi-Stationen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) entfallen. An letzteren sollen Sharing-Fahrzeuge wie Autos, Fahrräder oder Elektro-Tretroller zur Verfügung stehen. Als weitere Maßnahme soll eine neue Diagonalsperre am Hohenstaufenplatz den Schleichverkehr zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße unterbinden.

»Schrittweise mehr Platz« lautet nun der Untertitel des Verkehrswendeprojekts im Kiez zwischen Landwehrkanal und Hasenheide, das bei günstigem Verlauf vom sogenannten Kernbereich an Böckh- und Graefestraße schrittweise ausgeweitet werden könnte. Diese zwei Straßenabschnitte seien ausgewählt worden, weil sich dort drei Schulen befinden, erklärt das Bezirksamt. »Durch die geplanten Maßnahmen werden Sichtbeziehungen verbessert und Fahrgeschwindigkeiten reduziert«, heißt es.

Bei dem bereits vor 40 Jahren als Spielstraße ausgewiesenen Gebiet handele es sich um einen »unvollständig eingerichteten verkehrsberuhigten Bereich«, sagt die zuständige Bezirksstadträtin Annika Gerold (Grüne). Das führe zu einer »missverständlichen Situation und erhöhter Gefährdung für Rad- und Fußverkehr«. Im vergangenen Jahr sei beispielsweise vor der Lemgo-Grundschule das Tempo des Autoverkehrs gemessen worden – mit niederschmetterndem Ergebnis: Nur etwa zehn Prozent halten sich an das Tempolimit von fünf bis 15 Kilometern pro Stunde in Spielstraßen.

An den Ausführungen von Verkehrs- und Ordnungsstadträtin Gerold ist es schon zu hören: Die Argumentation ist sehr stark an den Grenzen der Rechtslage orientiert. »Wir haben hier in Anführungszeichen nur eine durchschnittliche Gefährdungslage. Wir müssen umfangreich begründen«, sagt sie. Neben den juristischen Problemen nennt Gerold aber auch die »kontroversen Diskussionen« im Vorfeld als Grund, warum das Projekt abgespeckt worden ist.

Starker Gegenwind kommt bereits seit Beschluss des Vorhabens in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vom Friedrichshain-Kreuzberger CDU-Kreischef Timur Husein. Er initiierte einen Einwohnerantrag gegen das Projekt mit über 1400 Unterschriften, dessen abschließende Behandlung in der BVV noch aussteht. Bei Twitter triumphierte er am Dienstagabend: »Unser Einwohnerantrag hat etwas Wirkung gezeigt.« Der Anwalt, der gerade den Sprung ins Abgeordnetenhaus geschafft hat, hatte im Vorfeld angekündigt, auch Anwohnerklagen zu unterstützen.

Kritik hatte auch Die Linke im Bezirk geübt, zunächst hauptsächlich an der mangelnden Beteiligung der direkten Anwohner an der Grundsatzentscheidung. Die Linke-Bezirksverordnete Gaby Gottwald ist nun außer sich. »Da wird zunächst mit maximalem Konfrontationskurs die Wählerschaft faktisch der CDU in die Arme getrieben, die sich mit Engagement für die Bürger profilieren kann und dann bleibt von der Ursprungsidee praktisch nichts übrig?«, sagt sie fassungslos zu »nd«. »Das ist Stümperhausen, Wählerverdummung. Das Bezirksamt muss die Rechtslage doch bereits vor der Wiederholungswahl gekannt haben«, so Gottwald.

»Wir haben uns bundesweit auch ähnliche Versuche angeschaut. Die Straßenverkehrsordnung ist nicht mehr zeitgemäß, denn sie verlangt einen Blutzoll. Man muss die Gefahrenlage genau qualifiziert darlegen. Und das ist uns auch unserer Ansicht nach gelungen«, sagt Andreas Knie, Verkehrsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er begleitet den Verkehrsversuch umfangreich wissenschaftlich.

Das WZB hat auch das Gutachten für die rechtliche Bewertung des Vorhabens in Auftrag gegeben, für das im Bezirkshaushalt kein Geld zur Verfügung steht. Die rund eine halbe Million Euro, die für die wissenschaftliche Begleitung und die Beteiligung der Anwohner veranschlagt sind, kommen von der Mercator-Stiftung, der Deutschen Bundesstiftung Umwelt sowie vom Climate Change Center Berlin Brandenburg der Technischen Universität Berlin.

Für die Beteiligung, deren Auftakt »rund um das Wochenende am 22. April« stattfinden soll, ist wiederum der Verein Paper Planes zuständig. Dessen Vertreter Simon Wöhr sagt: »Wir werden informieren über das Projekt, aber auch aufrufen, sich aktiv einzubringen.« Eine Ausstellung mit Beispielen aus anderen Städten solle Inspirationen liefern. In den 400 Metern Straßenland des Kernbereichs soll ein Teil der Parkplätze entsiegelt werden – es geht auch um den klimagerechten Umbau der Stadt. Für solche Vorhaben, aber auch die Umnutzung von Stellplätzen durch sogenannte Parklets, setzt der Bezirk auf Senatsmittel. Aus den Erfahrungen in der Beteiligung sollen Gestaltungsprinzipien abgeleitet werden, die man im zukünftigen Freiraumkonzept übernehmen könne, so Simon Wöhr.

»Uns freut, dass es jetzt endlich losgeht«, sagt Verkehrsforscher Andreas Knie. Er erhofft sich viele Erkenntnisse. Etwa Antworten auf die Frage: »Kann man durch Umnutzung eine neue Qualität erzeugen und tatsächlich erreichen, dass weniger Autos fahren?« Dass die Versuchsanordnung deutlich bescheidener ausfällt als ursprünglich angestrebt, hält Knie für keinen besonders großen Makel. »Damit haben wir schon genügend Irritationsmaterial«, sagt er. »Einmalig« sei das in diesem Setting, etwas wegzunehmen und etwas anzubieten. Nur in der Kombination beider Maßnahmen gelingt eine Verkehrswende, so der Stand der Wissenschaft.

Allein schon die intensive Diskussion des im Juni 2022 von Grünen und SPD in der BVV beschlossenen Projekts habe für Veränderung gesorgt, berichtet Felix Weisbrich, Leiter des bezirklichen Straßen- und Grünflächenamts. Zu jenem Zeitpunkt haben noch 400 Stellplätze im nahegelegenen Parkhaus des Karstadt-Kaufhauses am Hermannplatz leergestanden. Nun seien es nur noch 100. »300 Leute haben sich für 50 Euro im Monat einen sicheren Stellplatz im Trockenen gesucht. Das ist schon ein Erfolg der Irritation«, sagt er.

Als Niederlage möchte Stadträtin Annika Gerold das deutliche Eindampfen des Vorhabens nicht verstanden wissen, auch wenn sie die ursprüngliche Radikalität für einen »spannenden Gedanken« halte. »Wenn ich das Projekt vom Ende her denke, bin ich zufrieden mit dem abgewandelten Verfahren«, sagt die Grünen-Politikerin. Ob das Projekt im Graefekiez langfristig Bestand haben wird, darüber soll die BVV nach Vorliegen einer Auswertung im Frühjahr 2024 entscheiden. Klar ist: Solange der Bund an der Rechtslage nichts ändert, dürfte eine Ausweitung schwierig werden.

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