»Alles bleibt mir übrig«

Ein Mann wie Greta: Dacia Maraini hat Briefe an ihren toten Freund Pier Paolo Pasolini geschrieben und damit ein bewegendes Stück Erinnerungsliteratur geschaffen

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein hellsichtiger Gegner der Konsumgesellschaft: Pier Paolo Pasolini, 1975.
Ein hellsichtiger Gegner der Konsumgesellschaft: Pier Paolo Pasolini, 1975.

Pier Paolo Pasolini ist ein ungemein produktiver Dichter und Filmemacher gewesen. Dazu ein wirkmächtiger öffentlicher Intellektueller, der sich für politische, spirituelle und sexuelle Befreiung einsetzte, dabei regelmäßig größere Teile von Italiens Gesellschaft gegen sich aufbrachte und sich ebenso regelmäßig von ebendieser Gesellschaft vor Gericht gestellt sah. All dies hat dazu beigetragen, dass das gängige Pasolini-Bild dem eines rastlosen intellektuellen Berserkers gleichkommt. Da kann es durchaus überraschen, wenn Dacia Maraini herausstellt, als welch stillen und zartfühlenden Mann sie Pasolini erlebt hat.

In der Literatur über sie entschweben unsere Geistesgrößen ja zumeist in die höchsten Höhen der philosophischen oder ästhetischen Abstraktion. Das ist bei Maraini anders: Man lernt Pasolini als sehr irdischen Freund, Gesprächspartner und Menschen kennen, bekommt mit, was alles von seinen persönlichen Erfahrungen, Emotionen, Konflikten Eingang fand in die Werke. In seinen besten Momenten liest Marainis Buch sich so, als ob man Pasolini gegenübersitzt bei einem schön offenen und intensiven Gespräch in einem Straßencafé.

Maraini und ihr Mann, der Schriftsteller Alberto Moravia, freundeten sich Anfang der 1960er Jahre mit Pasolini an. Man ging gemeinsam auf Reisen, oft nach Afrika, wo sich reichlich Gelegenheit bot, andere Kulturen und damit die Geschichte des Menschengeschlechts besser kennenzulernen. Den Übergang von der Rache praktizierenden archaischen Gesellschaft hin zu einer zivilisierten Gesellschaft, welche Gerechtigkeit kultiviert, schreibt Maraini an einer Stelle, habe sie stets als größte menschliche Errungenschaft angesehen. Pasolini hingegen fand Gerechtigkeit unerheblich; Gewalt, meinte er, bekämpfe man wirkungsvoll nur mit dem Mittel der Liebe.

Manchen Lesern dürften solche Passagen prätentiös erscheinen. Doch so war das damals nach den Katastrophen der beiden Weltkriege. Viele Menschen in Europa wollten gleichsam neu anfangen, sprich: aus der Geschichte lernen, herausfinden, wie genau eine nicht-zerstörerische Zivilisation aussehen müsste. Es ging, kurz gesagt, ums Ganze.

Wozu hitzige Auseinandersetzungen gehörten. Als man im katholischen Italien der 1970er Jahre über die Legalisierung der Abtreibung stritt, griff Pasolini die sich dafür einsetzende Frauenbewegung scharf an. Mittels dieser Legalisierung, argumentierte er, würdige man die Sexualität endgültig zu einem Bestandteil der hedonistischen Konsumwelt herab. Dacia Maraini optierte seinerzeit für die Legalisierung, auch deswegen, weil die entwürdigende und Opfer fordernde Praxis der illegalen Abtreibung endlich ein Ende finden sollte. Sich die damaligen Argumente wieder vor Augen führend, kommt Maraini zu dem Schluss, dass der sich für gesellschaftliche Außenseiter stets stark machende Pasolini nie einen Blick hatte für die Nöte von Frauen.

Und dann ist da die Sache mit der Armut, der bescheidenen Lebensweise. Beides schätzte Pasolini an den durchreisten afrikanischen Ländern, hielt es der westlichen Verschwendung gegenüber für überlegen, predigte es in vielen seiner Texte. Während er selbst aber, wie Maraini anmerkt, auf ebendiesen Reisen stets die luxuriösesten Autos und Hotels nutzte. Ambivalenzen, Ungeklärtes, Rätsel.

Marainis Buch besteht aus lauter Briefen an den toten Pasolini. So kann die Schriftstellerin den aus einer engen Freundschaft mit ihm herrührenden Ton der Vertrautheit beibehalten. Hinzu kommt, dass sie, die in den letzten Jahren einige ihr nahestehende Menschen verlor, gelernt hat, Verbindungen zu jener jenseitigen Welt zu pflegen, aus der es keine Wiederkehr gibt und in der auch Pasolini seit Langem weilt. Mit anderen Worten: Nur weil Pasolini tot ist, ist das Gespräch mit ihm nicht beendet.

Ein Thema, das Maraini zu Lebzeiten Pasolinis beunruhigte und es immer noch tut, sind die Ursachen für sein ausgeprägt negatives Selbstgefühl. Jeden Abend fuhr der Dichter, der schwul war, los, um mit sehr jungen Strichern zusammen zu sein. »Liebe in stinkenden, einstürzenden Häusern, in einem Abort, mit beschämendem Feilschen«, schrieb er darüber in einem Poem. Die von Pasolini bevorzugte Form von Sexualität, immer praktiziert an Orten, wo Gewalt drohte, sieht Maraini als Spiel mit dem Tod an. Als ob Pasolini sich für bestimmte Verfehlungen in seinem Leben selbst bestrafen wollte.

Bei aller Bewunderung für ihn kann Maraini ein gewisses Unverständnis dafür, wie der doch über reiche analytische Gaben verfügende Pasolini mit seinen eigenen Widersprüchen umging, nicht ausräumen. Überhaupt fügt ihr Pasolini-Bild sich nicht zu einem einheitlichen, schon gar nicht zu einem harmonischen Ganzen, sondern ist bruchstückhaft, besteht aus gemischten Gefühlen, einem ständigen Für und Wider. Der Leser ist aufgefordert mitzudenken, sich seinen eigenen Pasolini zu formen.

In einem ist Dacia Maraini aber ganz sicher: Dass Pier Paolo Pasolini die zu seinen Lebzeiten ja noch im Entstehen begriffene Konsumgesellschaft als alle und alles im Namen des Profits vereinnahmende kulturelle Gleichmacherei und als weltzerstörend ansah, war vorausschauend und richtig. Und weil Pasolini anders als viele andere Linke seine Fahne niemals nach dem Wind hängte, immer hellsichtiger Kritiker des Kapitalismus blieb, kann er uns bei dem helfen, was wir heute erleben – und darum hat er auch vieles gemeinsam mit der Generation Greta Thunberg.

Bei seinen Afrikareisen hielt Pasolini auch nach Menschen, Orten, Ländern Ausschau, die den Siegeszug der geldzentrierten Gesellschaft vielleicht doch aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen in der Lage sind. Die Möglichkeiten dazu schätzte er allerdings nicht besonders optimistisch ein, eher im Gegenteil. Was einem denn noch übrig bleibe, wurde Pasolini einmal gefragt, wenn man die Lage so düster wie er beurteile. Antwort: »Alles bleibt mir übrig, angefangen bei mir selbst, meiner Lebendigkeit, meinem Auf-der-Welt-Sein, Sehen, Arbeiten, Verstehen. Es gibt hunderte von Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, Sprachen zu hören, Dialekte wiederzugeben, Puppentheater zu inszenieren.«

Dacia Maraini: Caro Pier Paolo – Briefe an Pasolini. A. d. Ital. von Maja Pflug.
Rotpunktverlag, 208 S., geb., 25 €.

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