Testfeld Lockdown

Für die Erforschung nicht pharmazeutischer Pandemiemaßnahmen fehlen die Ressourcen

Die Schnabelmaske dieses Mannes soll an die Zeit der Pest erinnern.
Die Schnabelmaske dieses Mannes soll an die Zeit der Pest erinnern.

Am 27. Januar 2020 erreicht das Coronavirus Deutschland. Sechs Wochen später verhängte die damalige Bundesregierung um Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) erste Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Der erste Lockdown trat am 22. März in Kraft, verbunden mit vielen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Mit ersten Lockerungen endete die Maßnahme am 4. Mai 2020. Im Dezember folgte ein zweiter Lockdown, der mehrmals verlängert wurde und bis Mai 2021 ging.

Zu Beginn der Pandemie ging es um nicht pharmazeutische Maßnahmen. Von Impfungen konnte noch nicht die Rede sein, auch nicht von Medikamenten gegen Covid-19. Die PCR- und Schnelltests waren erst im Anlaufen. Bald zeigte sich ein Problem bei der Versorgung mit medizinischen Masken.

Der erste Lockdown umfasste kein vollständiges Ausgangsverbot. Man durfte spazierengehen und draußen Sport treiben. Es traten jedoch etliche Regeln in Kraft, die dazu beitrugen, dass Straßen und Verkehrsmittel nahezu leergefegt wirkten. Kontakte sollten vermieden werden, Abstand war zu halten. Es durfte nicht in Gruppen gefeiert werden. Nur noch die Wege zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Arzt oder zu Prüfungen waren erlaubt. Restaurants mussten schließen, konnten nur auf Essenslieferungen oder To-go-Angebote ausweichen. Bestimmte Dienstleister wie Friseure wurden ebenfalls zur Untätigkeit verurteilt. Nur wenige Behörden, Lebensmittelgeschäfte und Apotheken konnten weiter öffnen.

Dieses Regelwerk mutet kompliziert an. Unter dem ersten Schock der Pandemie wurde es zunächst wenig in Frage gestellt. Aber mit jeder neuen Ansteckungswelle gab es andere und neue Vorgaben, teils in widersprüchlichen Varianten. Seit März 2020 wurde das Infektionsschutzgesetz dutzende Male angefasst. Die beiden letzten Änderungen treten erst noch in Kraft, ab Januar 2024 betreffen sie zum Beispiel Neuregelungen des sozialen Entschädigungsrechtes.

Die ständigen Neuregelungen waren schwer überschaubar, noch schwieriger wird es bei der Bewertung der Maßnahmen. Pandemiepolitik kann nicht nur daran gemessen werden, dass sich möglichst wenige Menschen infizieren. Jede Entscheidung muss auf ihre Gesamtauswirkungen geprüft werden. Was brachten Kontaktsperren, Schulschließungen, weitgehenden Stilllegungen von Handel, Gastronomie und »körpernahen« Dienstleistern, Versammlungs- und Reiseverboten am Ende für die Eindämmung des Infektionsgeschehens? Wie sahen soziale, psychische oder wirtschaftliche Folgen aus?

Die Aussagen dazu sind spärlich. Schon erste Nachfragen an die Bundesregierung verhießen nichts Gutes: Im Juni 2020, als die ersten Auflagen gerade gelockert waren, konnte sie keine konkreten Begründungen zu einzelnen Maßnahmen liefern. Auf eine Anfrage der Linke-Abgeordneten Ulla Jelpke hieß es vage: »Die Bundesregierung hat sich intensiv mit Expertinnen und Experten beraten und in ihre Entscheidungsfindung einschlägige Studien und internationale Erfahrungen einbezogen.« Passen musste die Regierung auf Fragen nach der Wirkung von Geschäftsschließungen sowie des Betriebsverbots von Gast- und Sportstätten oder Kirchen.

Gut zwei Jahre später, im Juli 2022, legte der 18-köpfige Corona-Sachverständigenrat der Bundesregierung sein Gutachten über Wirksamkeit der Maßnahmen vor und konnte sich gerade dazu durchringen, dass diese vor allem zu Beginn der Pandemie sinnvoll waren. Der grundsätzliche Vorbehalt folgte auf dem Fuße: Die Aussagekraft des eigenen Berichts sei beschränkt, so die Experten, die teils selbst an den Maßnahmeempfehlungen mitgearbeitet hatten. Hauptgrund für die fehlende Bewertungsmöglichkeit sei die schlechte Datenlage.

Teils positiv bewertet wurden Zugangsbeschränkungen wie die 2G/3G-Maßnahmen, von denen im ersten Lockdown noch keine Rede war. »Rein« durfte nur, wer geimpft, genesen und/oder getestet war. Auch hier eine Relativierung: Diese Differenzierung wirke am besten in den ersten Wochen nach Boosterimpfung oder Genesung, so das Urteil der Sachverständigen. Der Schutz vor einer Ansteckung lasse dann deutlich nach. Deshalb die Empfehlung, eher mit tagesaktuellen Tests zu arbeiten.

Masken könnten aus Sicht der Experten ein wirksames Instrument sein, aber nur, wenn sie gut sitzen und eng anliegen. Eine erneute Maskenpflicht sollte künftig nur für Innenräume gelten. Eine Empfehlung speziell für FFP2-Masken lasse sich aus den vorliegenden Daten nicht ableiten.

Die Wissenschaftler urteilten zudem, dass ein Lockdown, also die weitgehende Unterbindung des normalen öffentlichen Lebens, dann stärker wirke, wenn erst wenige Menschen infiziert sind. Gleiches gelte für die Kontaktnachverfolgung.

Die Wirksamkeit schwindet mit dem Andauern der Maßnahmen. Hier kommt der Faktor Vertrauen ins Spiel, der in der Pandemiepolitik zwar immer mitschwang, dessen Messung aber weniger Aufmerksamkeit fand. »Gemessen« wurden derartige weiche Faktoren aber. Im Rahmen der Cosmo-Studie befragten Wissenschaftler seit März 2020 in 70 Durchläufen etwa 1000 repräsentativ ausgewählte Personen zu Risikowahrnehmung, Schutzverhalten und Vertrauen während der Pandemie. Die Studie ist ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Erfurt und weiterer Einrichtungen. Die letzte Erhebung erfolgte Ende November 2022. Sie resümierte, dass andere Krisen in den Vordergrund getreten seien: Klimawandel und Ukraine-Krieg. Außerdem: Eine Mehrheit würde ohne Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr keinen Mund-Nasen-Schutz mehr tragen, was sich später bewahrheitete. Gravierender ist die Stimmungsänderung in Sachen Impfen. »Im Vergleich zu Sommer 2020 gibt es heute mehr Unsichere und Personen mit Fragen und weniger eindeutige Impf-›Fans‹. Dies entspricht ungefähr dem Stand von 2012; die Vertrauensgewinne der letzten Dekade sind aktuell verschwunden«, so die Zusammenfassung.

Warum ist es so schwierig, zur Wirksamkeit der nicht pharmazeutischen Maßnahmen abschließende Bewertungen zu erhalten? Infektionsketten sollen hier durch Verhaltensänderungen durchbrochen werden. Laut der Münchner Public-Health-Forscherin Eva Rehfuss gelten für nicht pharmazeutische Maßnahmen drei Grundregeln: Sie wirken im Zusammenspiel in einem Paket. Je nach Kontext und Pandemiephase müssen sie jeweils angepasst werden. Ihr Effekt hängt davon ab, ob sie machbar sind und richtig umgesetzt werden. Letzteres könnte durch schwindendes Vertrauen in Frage gestellt werden. In den Lebensbereichen gibt es viele Einflussmöglichkeiten und Varianten, die Forschung zu diesem Thema sehr aufwendig machen.

Die Bessi-Collaboration, die Pandemiemaßnahmen erforscht, zählte im Sommer 2022 nur 18 veröffentlichte Studien aus diesem Bereich, aber 974 zu Impfstoffen und Medikamenten. Bei den nicht pharmazeutischen Maßnahmen gibt es, am besten sichtbar im Null-Covid-Ansatz, zumindest theoretisch die Möglichkeit, diese bis zum Extrem auszuweiten. Etwa die Kontakte für eine bestimmte Zeit auf null zu reduzieren. Das wurde in Einzelbereichen versucht, etwa in den Schulen. Aber genau in diesem Feld ist unübersehbar, dass dies gesundheitliche und soziale Folgekosten hatte. Bei Kindern sind es Entwicklungsverzögerungen oder Versäumnisse im Schulstoff.

Die fachliche Bewertung der Lockdown-Maßnahmen ist nicht so einfach wie die bei Impfstoffen oder Medikamenten, aber auch nicht unmöglich. Nötig sind dafür aber Ressourcen, die bislang deutlich zu gering bemessen waren.

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